Meinung 27. Oktober 2021, von Marius Schären

Es trifft die finanziell schlecht Gestellten

Pandemie

Dass viele Örtlichkeiten nur Menschen mit einem Covid-Zertifikat zugänglich sind, ist keine soziale Massnahme. Das müsste nicht so umgesetzt sein. Prävention wäre anders möglich.

Vorweg: Ich habe mich gegen Covid-19 impfen lassen. Das war mein eigener Entscheid. Und das ist richtig so: Eine Impfung ist ein Ein­griff in die körperliche Unversehrtheit, und dieser darf nicht gesetzlich verlangt werden. Das garantiert Artikel 10, Absatz 2 der Bundesverfassung.

Trotzdem müssen wir mit Einschränkungen leben, wenn wir uns nicht impfen lassen: Manche Arbeitsstellen schreiben eine Grippeimpfung vor, bei Reisen kann eine Gelbfieberimpfung obligatorisch sein. Das ist absolut nachvollziehbar.

«Indirekter Impfzwang»

Mit der aktuellen Zertifikatspflicht ist die Landesregierung einen Schritt weitergegangen. Zwar besteht nach wie vor keine explizite Impfpflicht. Doch warum soll beispielsweise eine alleinerziehende Mutter, die am Existenzminimum lebt, sich nicht impfen lassen will und kerngesund ist, mit ihren kleinen Kindern nicht kurz in eine Bibliothek gehen dürfen, ohne extra dafür einen nicht ganz billigen Test – der überdies keinen hundertprozentigen Schutz garantiert – machen zu müssen?

Drohen Überlastungen von Spitälern durch Covid-Patienten, gäbe es sozial verträglichere und zielgerichtere Massnahmen.

Warum müssen junge gesunde Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen und ein äusserst geringes Risiko aufweisen, an Covid-19 mit schwerem Verlauf zu erkranken, für ihre Ausbildung ein Zertifikat haben? Auch hier wiederum trifft es jene besonders hart, die finanziell schlecht gestellt sind. Die Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle sieht darin einen «indirekten Impfzwang». Der Staat beschneide mit solchen flächendeckenden Massnahmen die Grundrechte.

Über die Frage, ob die Zertifikatspflicht diskriminierend ist, streiten sich die Fachleute. Aus ethischen und sozialen Gründen wäre die Aufhebung aber angebracht. Denn: Menschen mit Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf dürften unterdessen geimpft sein. Drohen Überlastungen von Spitälern durch Covid-Patienten, gäbe es sozial verträglichere und zielgerichtere Massnahmen: Lüftungssysteme in öffentlichen Räumen, Investitionen ins Gesundheitswesen und längerer Verzicht auf Grossveranstaltungen.