Recherche 12. Mai 2022, von Felix Reich

Einen Systemfehler korrigieren

Politik

Niemand soll mehr aus Angst um den Aufenthaltsstatus in Armut leben und auf Sozialhilfe verzichten. Das kirchliche Hilfswerk Heks hat eine Petition lanciert.

Menschen, die eigentlich ein Anrecht auf Sozialhilfe haben, verzichten aus Angst um ihre Aufenthaltsbewilligung auf finanzielle Unterstützung. Stattdessen stehen sie stundenlang an für kostenlose Essenspakete. Die Bilder von Menschenschlangen mitten in Zürich zählten zu den sozialen Symptomen der Pandemie.

Zürcher Weg in der Sackgasse

Die offensichtlich gewordene Armut von Menschen, die das soziale Sicherungssystem nicht auffängt, veranlasste den Zürcher Stadtrat, ein eigenes Netz aufzuspannen. Mit der Basishilfe wollte die Stadt gezielt die Armut bekämpfen. Unterstützt werden sollten Sans-Papiers, aber auch jene Ausländerinnen und Ausländer, die sich vor dem Verlust der Aufenthaltsbewilligung fürchteten und deshalb das Sozialamt mieden. «Wir beheben einen Systemfehler», sagte Stadtrat Raphael Golta (SP) im vergangenen Sommer gegenüber «reformiert.».

Doch verändern konnte Zürich das System zumindest vorerst nicht. Der Bezirksrat hiess einen Rekurs gegen den Zürcher Alleingang gut, der Stadtrat verschlief die Frist, um das Verfahren weiterzuziehen. Damit war die Basishilfe Geschichte.

Das Recht auf Familie

Nun greift das Hilfswerk der evangelischen Kirchen in der Schweiz (HEKS) das Thema aus eigener Initiative auf. Es hat eine Petition mit der Forderung lanciert, dass Aufenthaltsstatus und Sozialhilfebezug voneinander entkoppelt werden sollen. Heute kann der Bezug von Sozialhilfe dazu führen, dass der Aufenthaltsstatus herabgestuft wird. Im Extremfall droht die Ausweisung.

Zudem fordert das Heks, dass Menschen, die Sozialhilfe beziehen, nicht schlechter gestellt werden, wenn es um den Familiennachzug geht. Die engsten Angehörigen darf nur in die Schweiz holen, wer weder Sozialhilfe noch Ergänzungsleistungen bezieht. Damit werde den Betroffenen «das Recht auf Familienleben abgesprochen», kritisiert das Heks.

Die ungehörten Stimmen

Heks-Sprecher Dieter Wüthrich sagt auf Anfrage, dass die Petition aufgrund der Erfahrungen in der Pandemie lanciert wurde. «Wir wollen jenen Menschen eine Stimme geben, die in den Medienberichten über die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie kaum vorgekommen sind.» Etwa die ausländischen Hausangestellten in der Westschweiz, die ihre Stelle verloren. «Dass Menschen, die jahrelang hier gearbeitet haben, keine Unterstützung erhalten, wenn sie ihr Einkommen verlieren, widerspricht unserem Rechtsempfinden.» 

Darüber hinaus kritisiert das Heks, dass für vorläufig aufgenommene Personen niedrigere Ansätze gelten als für Sozialhilfebeziehende mit Schweizer Pass. Was nach Abzug der ebenfalls als Unterstützung geltenden Sachleistungen wie Kleidern und Esswaren übrigbleibt, «reicht nicht aus, um die nötigen Integrationsleistungen zu erbringen». Bereits das Busticket in den Deutschkurs könne zur Belastungsprobe für das Budget werden.

Doppelt unter Druck

Zur Petition entschloss sich das Hilfswerk, weil es in seiner Projektarbeit beobachtete, unter welchem wirtschaftlichen und psychischen Druck die betroffenen Menschen leiden. «Wir wollen uns klar positionieren und eine politische Debatte lancieren», sagt Wüthrich. 

Dass Menschen, die in prekären Verhältnissen lebten, noch stärker an den Rand gedrängt werden, ist für Wüthrich «ein Alarmzeichen, das über die Pandemie hinausweist». Deshalb fordert der Heks-Sprecher «eine Korrektur des Systems». Zuletzt hatte die Politik die Bezugskriterien für die Sozialhilfe stets verschärft. Das Hilfswerk verlangt eine Umkehr.