Gegen Impfpflicht – für Freiheit und Verantwortung

Pandemie

Ist eine Impfpflicht vertretbar? Zum heiss diskutierten Thema nimmt jetzt die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) ausführlich Stellung. Ihre Antwort: Nein – aber.

Ja, es sei aus christlicher Sicht eine Pflicht, sich impfen zu lassen: Das sagte Annette Kurschus, die neue Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), im November in der ARD-Sendung «Tagesthemen». Denn Freiheit habe immer mit Gemeinschaft zu tun, und dabei sei der Schutz der Verwundbaren wichtiger als das Zusammenführen aller Meinungen.

Anspruchsvolle Position

Und wie sieht das die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS)? Sie gibt lange Antworten auf kurze Fragen und verweist auf eine neue Publikation. Kurz gesagt, mit einem Zitat aus den Antworten des EKS-Rates selbst: «Die Position der EKS ist anspruchsvoll.»

Die EKS setzt auf den Willen und die Einsicht der Bevölkerung, von ihren Freiheiten verantwortungsvoll Gebrauch zu machen – im Blick auf das Gemeinwohl. Durch Aufklärung sollten die Menschen unterstützt werden. Denn: «Die EKS zweifelt, dass die Gesellschaft die Pandemie mit Zwang bezwingt.»

Soziale Verantwortung – oder Schutz persönlicher Freiheit?

Für die EKS prallen in den aktuellen Impfkontroversen zwei Pole aufeinander: die soziale Verantwortung für die Gemeinschaft und der Schutz der persönlichen Freiheit und körperlichen Integrität. So fragt sie in ihrer neuen Publikation «Die Corona- und Impfdebatte – ethische und kirchliche Perspektiven»:

  • Besteht eine allgemeine Solidaritätspflicht gegenüber der Gesellschaft und gegenüber verwundbaren Gruppen?
  • Müssen eigene Impfrisiken hingenommen werden, um schutzbefohlene Personen vor Gesundheitsgefährdungen zu schützen?
  • Und dürfen nicht geimpften Menschen Freiheiten vorenthalten werden, über die geimpfte und genesene verfügen?
Die EKS zweifelt, dass die Gesellschaft die Pandemie mit Zwang bezwingt.
Stellungnahme des EKS-Rates

«Die Politik kann zwar an die Solidarität der Bevölkerung appellieren und damit eine staatliche Massnahme begründen», hält die EKS fest. Aber Solidarität staatlich einzufordern widerspreche der Solidarität selbst. Denn die Idee, Haltungen und Motive davon beruhten ja gerade auf Freiwilligkeit.

Für 3G-Regelung und Gratis-Tests

Im Fazit nimmt das reformierte Kirchendach der Schweiz also eine etwas andere Haltung ein als ihr Pendant in Deutschland. «Aus gesellschaftspolitischer Sicht sollten sich die Kirchen für eine Beibehaltung der 3G-Regelung inklusive der Rückkehr zur staatlichen Finanzierung von Tests einsetzen», schlägt Frank Mathwig, Beauftragter für Theologie und Ethik, in der neuen EKS-Publikation konkret vor.

Für diese Haltung nennt Mathwig vier Gründe.

  1. taugten staatliche Beschränkungen nicht als «gesellschaftliches Motivations- oder Disziplinierungsinstrument».
  2. würde riskiert, die rechtlich garantierte Impffreiheit zu unterlaufen, wenn geimpfte oder genesene und nicht geimpfte Menschen ungleich behandelt würden.
  3. hält Frank Mathwig fest: «Die zunehmenden Impfdurchbrüche schwächen die Aussagekraft des Zertifikats und werfen die Frage auf, ob der Test nicht wieder in den Mittelpunkt rückt, zumindest bis alle geimpften Personen Zugang zu einer Auffrischungsimpfung haben.»
  4. könnten die Risiken von geimpften Personen wegen der abnehmenden Immunität durch eine Maskenpflicht reduziert werden.

Persönliche Freiheit UND Verantwortung

Die EKS betone die Freiheit der persönlichen Impfentscheidung, nimmt der Rat der EKS zusätzlich auf Anfrage Stellung. «Der Schutz vor dem Eingriff in die körperliche Integrität gilt ausnahmslos für jede Person.» Und Einschränkungen dürften grundsätzlich nicht damit begründet werden, dass jemand einer bestimmten Berufsgruppe angehört.

Die zunehmenden Impfdurchbrüche schwächen die Aussagekraft des Zertifikats und werfen die Frage auf, ob der Test nicht wieder in den Mittelpunkt rückt, zumindest bis alle geimpften Personen Zugang zu einer Auffrischungsimpfung haben.
Frank Mathwig, Beauftragter für Theologie und Ethik bei der EKS

Aber: «Die höchstpersönliche Impfentscheidung muss auch vor den Menschen standhalten, deren Gesundheit und Lebenschancen von der Entscheidung indirekt beeinflusst werden oder werden können», gibt der EKS-Rat zu bedenken. Denn ethisch begründungspflichtig sei nicht unsere Solidarität mit anderen Menschen, sondern die Verweigerung unserer Solidarität gegenüber jenen, die darauf angewiesen sind.

Deshalb sei das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Impfung nicht nur die eigene Gesundheit angeht, sondern auch mit den Gesundheitsrisiken anderer spekuliert: etwa der Menschen, die angesteckt werden, weil sie auf die Betreuung und Begleitung anderer angewiesen sind; der Menschen, deren akute und lebensbedrohliche Erkrankungen aufgrund der Spitalengpässe nicht mehr (ausreichend) behandelt werden können oder der Menschen, die aufgrund der hohen Infektionsraten am stärksten von freiheitseinschränkenden Massnahmen betroffen sind.

Die Jungen und die armen Länder

Klar Stellung nimmt die EKS in Bezug auf junge Menschen. Es sei aus gesellschaftlicher Sicht ethisch und politisch fragwürdig, wenn Jugendliche und Kinder zu einer Erhöhung der Impfquote beitragen sollen, um zukünftigen Freiheitsbeschränkungen vorzubeugen. So würden sie für die Impfverweigerung von Erwachsenen geradestehen müssen.

Und ebenfalls klar liest die EKS den Ländern die Leviten, die Impfstoffe im Überfluss horten. Das sei ebenso fatal wie die einseitige Fokussierung auf die eigene Bevölkerung. «Die wohlhabenden Staaten stehen im eigenen Interesse in der Verantwortung gegenüber den armen und ärmsten Ländern.» Deshalb müsse die internationale COVAX-Initiative «entschieden gefördert» und müssten die in den reichen Ländern gehorteten Impfstoffe gemäss dem weltweiten Bedarf gerecht verteilt werden, heisst es im EKS-Papier.

Kirche als Heils- und nicht als Gesundheitsagentur

Dass die Impfkontroverse auch die einzelnen Kirchen herausfordert, liegt auf der Hand. Freiheitsrechte schützen, zugleich die Menschen in Kirchen und ihren Institutionen schützen – und dann noch den innerkirchlichen und gesellschaftlichen Frieden wahren: All das sind ihre Aufgaben, wie die EKS-Publikation festhält. Denn: «Kirche ist nach biblischem Verständnis keine Gesundheits-, sondern eine Heilsagentur.»

Und doch könne Kirche nicht glaubwürdig das christliche Heil verkünden, wenn sie die Gesundheitsrisiken der eingeladenen Menschen ignoriere. «Weil die biblische Heilsbotschaft keine medizinische Alternativtherapie oder eine geistbegabte Pandemiestrategie verkündet, darf Kirche nicht mit einem solchen Anspruch auftreten.»

Mit dem Selbstverständnis evangelisch-reformierter Kirche völlig unvereinbar sind gewalttätige Proteste, der Hass gegen Personen und die Verunglimpfung von Verantwortungsträgerinnen und -trägern in Politik, Gesellschaft und Kirchen.
Frank Mathwig, Beauftragter für Theologie und Ethik bei der EKS

Als praktische Folgerung empfiehlt die EKS den Kirchen für Menschen, die die Zertifikatspflicht nicht erfüllen oder akzeptieren, um der «Ehre Gottes» willen alternative Gottesdienstformen anzubieten. Zugleich sollten sich diese Menschen selbst ernsthaft fragen müssen, warum sie «Anstoss» an den staatlichen Regelungen nehmen. Nicht die gleiche Meinung zu haben, sondern die Fähigkeit und Bereitschaft, statt des Seinen (des Selbstbezogenen) «das des Anderen» zu suchen (1. Korinther 10, 24), fördere kirchliche Gemeinschaft. «Gerade in der Krise will die christliche Botschaft beim Wort genommen werden», bekräftigt die EKS.

Explizit gegen Gewalt, Hass und Verunglimpfung

Ausdrücklich wendet sich die EKS in der Publikation schliesslich gegen Auswüchse der Kontroverse. «Mit dem Selbstverständnis evangelisch-reformierter Kirche völlig unvereinbar sind gewalttätige Proteste, der Hass gegen Personen und die Verunglimpfung von Verantwortungsträgerinnen und -trägern in Politik, Gesellschaft und Kirchen.»

Ausserdem sei die missbräuchliche Verwendung von jüdischen Symbolen und nationalsozialistischen Zeichen, Redeweisen und Gesten «unerträglich, einer freien Gesellschaft unwürdig und im Raum der Kirche untragbar». Weder in den Kirchen noch in der liberalen Gesellschaft hätten solche Gesinnungen und Haltungen Platz. Und: «Nicht nur in der Krise zeigt sich Kirche darin, ob und wie sie jeder Person eine Nächste werden kann.»