Recherche 15. Oktober 2021, von Sandra Hohendahl-Tesch

Wenn mit dem Zertifikat ein Gespräch beginnt

Pandemie

Zertifikate für Kirchenräume sind zwar heikel. Nachfragen in Gemeinden zeigen jedoch, dass es kaum Probleme gibt. Vielmehr kommen gar Denkprozesse in Gang.

Eintritt nur mit Zertifikat. Auch im Gottesdienst mit mehr als 50 Besuchern gilt seit dem 13. September 3G: Nur wer geimpft, genesen oder getestet ist, darf teilnehmen. Damit niemand vor einer verschlossenen Kirchentür steht, sollen die Kirchgemeinden im Voraus kommunizieren, ob der Anlass unter die Zertifikatspflicht fällt oder nicht. 

Der Kirchenrat steht offiziell hinter der Corona-Strategie des Bundes. Doch wie sieht es mit der konkreten Umsetzung in den einzelnen Kirchgemeinden aus? Überwiegt Erleichterung oder doch eher Frust über diese theologisch heikle Hürde, die gewisse Kreise gar als Verstoss gegen das Evangelium sehen.

Skepsis auf dem Land

Die Recherche beginnt in Turbenthal. Die Gemeinde im Tösstal ist am unteren Ende der kantonalen Impfstatistik zu finden. Sonntags besuchen in der mit Wila fusionierten Kirchgemeinde bisweilen über 50 Leute den Gottesdienst. «Viele Junge sind ungeimpft», weiss die Präsidentin der Kirchenpflege Marianne Heusi. Die Angst vor Unfruchtbarkeit als angebliche Langzeitfolge sei auf dem Land sehr präsent.  

Damit gemeinsames Feiern weiterhin möglich sei, seien Gespräche und kreative Lösungen nötig. Insbesondere bei den Kasualien, wo viele Menschen zusammenkommen. So werden in Turbenthal-Wila Taufen auf Wunsch der Familien auch einmal am Samstag statt am Sonntag im Gemeindegottesdienst durchgeführt – ohne Zertifikat.

Ziel der Kirche muss es sein, die Wogen zwischen Geimpften und Ungeimpften zu glätten.
Marianne Heusi, Kirchenpflegepräsidentin Turbenthal

Auch für Beerdigungen überlege man sich eine zertifikatsfreie Alternative, etwa eine Teilnahme per Audioübertragung. «Ziel der Kirche muss es sein, die Wogen zwischen Geimpften und Ungeimpften zu glätten», ist Heusi überzeugt.  

In Uster, mit rund 10 000 Mitgliedern eine der grössten Kirchgemeinden im Kanton Zürich, hat man mit den Covid-Zertifikaten bisher positive Erfahrungen gemacht. Am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag am 19. September – als das neue System Premiere hatte – nahmen in der reformierten Kirche über 300 Leute an einem ökumenischen Gottesdienst teil.

Die Kirche soll ja für alle da sein.
Alexander Kohli, Kirchenpfleger Uster

«Etwas mulmig war mir schon zumute», sagt Kirchenpfleger Alexander Kohli, der an diesem Sonntagmorgen am Haupteingang Zertifikate kontrollierte. «Die Kirche soll ja für alle da sein.» Zwei Personen hatten kein Zertifikat und gingen ohne Diskussion wieder nach Hause. Für die meisten sei es aber eine schöne Erfahrung gewesen, erstmals wieder ohne Maske an einem Gottesdienst teilzunehmen. 

Vereinzelt komme es zwar vor, dass Menschen sich ausgegrenzt fühlten. Dann brauche es Fingerspitzengefühl und ein offenes Ohr, denn meist gehe es nicht wirklich um das Zertifikat, sondern um das tiefer liegende Gefühl, nicht dazuzugehören. «So gesehen ist es auch eine Chance, mit Menschen ins Gespräch zu kommen», sagt Kohli. 

Wer grenzt wen aus?

Einen offenen Kirchenraum für alle: Das ist Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster, das Wichtigste überhaupt. Anfänglich war er den Zertifikaten gegenüber skeptisch eingestellt. Mittlerweile sind sie für ihn vor allem eins: eine formale Sache, ein Mittel zum Zweck.  

Wer sich nicht impfen lassen kann oder will, hat die Möglichkeit, sich vor dem Gottesdienst gratis zu testen. In der Wasserkirche wurde extra ein Testzentrum eingerichtet. Allerdings stösst das Angebot auf wenig Interesse, ebenso wenig der alternative Gottesdienst ohne Zertifikat um 11.30 Uhr im Fraumünster.

In den Altstadtkirchen sind 90 bis 95 Prozent der Gottesdienstgänger geimpft, die Altersstruktur ist laut Sigrist betagt bis hochbetagt. Zertifikate werden nicht als Last empfunden, sondern geben den Besuchern ein Gefühl von Sicherheit.

Für den Theologen sind sie sogar noch mehr: «Sie werfen die Frage auf, wie die Kirche mit dem Anspruch umgeht, für alle da zu sein.» 

Es gibt viele Ausschlusskriterien. Wir müssen sie erkennen und eliminieren.
Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster

Als Sigrist vor Kurzem einen Obdachlosen zu sich in den Gottesdienst einladen wollte, schüttelte dieser den Kopf und meinte, das sei mehr etwas für reiche Leute. Das gab Sigrist zu denken: «Es gibt viele Ausschlusskriterien. Wir müssen sie erkennen und eliminieren.»

Moscheen treiben die Impfung voran

Von der Zertifikatspflicht sind auch die islamischen Organisationen betroffen. Die neuen Bestimmungen kämen insbesondere beim Freitagsgebet zum Tragen, sagt Abduselam Halilovic, Präsident der Vereinigung der Islamischen Organisationen Zürich (VIOZ). Ansonsten gelte bei den meisten Moscheen eine Obergrenze von 50 Teilnehmenden. Die damit verbundenen Einschränkungen wie etwa das Konsumverbot von Speisen und die Registrationspflicht hätten problemlos umgesetzt werden können.  

Lokale Testzentren wie etwa in der Zürcher Wasserkirche gibt es bei den muslimischen Gemeinschaften wegen beschränkter personeller Ressourcen allerdings keine. Imame weisen in den Moscheen immer wieder darauf hin, wie wichtig die Impfung sei. Allfällige Impfaktionen plant die VIOZ gemeinsam mit der Zürcher Gesundheitsdirektion. Konkretes folge später. neh