Missionseltern ohne Kinder – Kinder ohne Eltern

Geschichte

Kinder zwischen Kulturen und Kontinenten, zwischen Nanny und Mami. Ein beklemmendes Stück Geschichte der Basler Mission hat die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Konrad ausgeleuchtet.

Es war ein Tag, an dem Frieda Göttin ihr ganzes Leben lang zu nagen hatte. Abschied von den Eltern – vielleicht für immer. Frieda war ein Missionskind und wie für alle, die sechs Jahre alt waren, diktierte die Basler Mission die Trennung der Eltern von ihren Kindern. Der Missionsauftrag ging über alles.

Wer die Arbeit im Weinberg des Herrn in Übersee auf sich nahm, der musste alle Sentimentalitäten abschütteln. Beim Abschied im Kinderhaus auf dem Missionsareal hätten sich die Eltern nicht einmal umgedreht, erinnerte sich die heute Verstorbene vor vielen Jahren. «Die Frömmigkeit, die die Eltern hatten! Da habe ich gedacht, die müssen doch ganz anders handeln. die müssen uns doch lieb haben mit dieser Frömmigkeit. Kleine Kinder können nicht verstehen, warum es etwas Wichtigeres gibt als ihre eigenen Kinder», sagte sie im Gespräch mit der Journalistin Maya Brändli in einer Sendung auf SRF2. 

Modell der christlichen Familie nach Übersee tragen

Bereits 1853 schreiben die Instruktionen der Basler Mission diese die Familien zerrüttende Botschaft vor. Streng waren auch die Vorschriften für die Missionare. Das Modell der christlichen Familie mitsamt des Nachwuchs sollten sie nach Übersee tragen. Aber erst nach einer zweijährigen Bewährungszeit durften sie sich mit einer von Gottes Hand und dem Basler Komitee zugeführten Missionsbraut vermählen. Die Braut selbst war zuvor ihrem Bräutigam nie begegnet, kannte ihn nur von Briefen her. 

Postkolonialer Blick auf die Missionsgeschichte

Schon lange ist das Archiv der Basler Mission eine Fundgrube für Kolonialforscherinnen und Historiker. Besonders in einer Zeit, in der die postkolonialen Studien eine immer grössere Beachtung finden, hat sich Mission 21 als Nachfolgewerk der Basler Mission zur Aufgabe gemacht, sich vertieft mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Claudia Buess, Bildungsbeauftragte von Mission 21, begründet dies so: «Die Aufarbeitung unserer Geschichte ist schon deshalb notwendig, um die Vergangenheit differenziert in den Blick zu nehmen und Schlüsse aus der Geschichte für die Gegenwart zu ziehen.» 

Eine ganze Veranstaltungsreihe setzt sich mit der postkolonialen Vergangenheit auseinander. Das letzte Webinar zu diesem Thema befasste sich mit Missionskindern – sowohl den Kindern der Missionare wie auch der Zöglinge in den Missionsschulen. Die Vorträge und Diskussionen mit Expertinnen und Forschern können im Internet abgerufen werden.

Zur Website von Mission 21 über den Themenschwerpunkt «Mission – Colonialism Revisited»

Zuerst dachte der umtriebige Inspektor Joseph Josenhans, dass der aus diesen Ehen entsprungene Nachwuchs später die elterliche Fackel für Christentum und europäische Zivilisation im Kolonialland weitertragen könnten. Empört wiesen dies die Missionare zurück, die ihre Kinder in Europa aufwachsen sehen wollten.

Und so anerkannte der Inspektor in einem Memorandum: Im «Heidenland» sei kein guter Platz für weisse Kinder, zumal die viel beschäftigten Missionseltern kaum Zeit für die Erziehung ihrer Zöglinge hätten. Auch störe der Anblick von halbnackten oder nackten Kindern die Ausbildung des Schamgefühls beim europäischen Nachwuchs. 

Familienzusammenführung im Jenseits

Für rund 1500 andere Basler Missionskinder zwischen 1853 und 1910 bedeutete das: Mit sechs Jahren wurden sie aus ihrer bisher angestammten Umwelt herausgerissen und bei Verwandten oder im Basler Kinderhaus platziert. Immer wieder fragten die Kinder in Briefen nach, wann denn die Zeit zum Wiedersehen mit den Eltern gekommen sei.

Die Kulturwissenschaftlerin Dagmar Konrad, die im April ein Buch über die Missionskinder veröffentlicht hat, spürte Briefzeugnisse auf, die aus heutiger Perspektive befremden. Da bedauert beispielsweise Johanna Ritter brieflich, nicht beim neunten Geburtstag ihrer Tochter Else dabei sein zu können und tröstet mit einem Wiedersehen im Jenseits. «So wollen wir den lieben Heiland bitten, dass er uns doch alle einmal in den Himmel bringen möge. Oh, wie schön wird es dort wohl einmal sein.»

Literaturhinweis

Dagmar Konrad: Missionskinder. Migration und Trennung in Missionarsfamilien der Basler Mission des 19. Jahrhunderts, 368 Seiten, Waxmann Verlag, 2023.

Fraglich ist, ob sie sich gegenseitig in dem pietistisch vorgestellten Himmelreich überhaupt wiedererkannt hätten. So schreibt ein Vater, dass er  bei seinem Heimaturlaub seinen Sohn in der Schülermasse nicht ausmachen konnte. Und Clothilde Schwarz schreibt 1864 von Indien ihren Kindern: «Ihr seht ganz anders aus, als wir euch im Gedächtnis hatten.» Die Mutter stört sich daran, dass ihre Kinder ihr plötzlich so alt auf den zugesendeten Fotografien erscheinen.

Konrad stellte in vielen Briefen fest, dass die Eltern dazu neigten, sich ihre Kinder immer im Vorschulalter vorzustellen. Umgekehrt wiederum verwandelten sich für die Missionskinder in Württemberg und in der Schweiz ihre Eltern zu abstrakten Wesen, die nur noch schemenhaft durch die zugesandten Fotografien Kontur erhielten. 

Nanny-Sprache als Muttersprache

Eine zentrale These von Konrad ist es, dass die Missionskinder schon vor mehr als hundert Jahren durchlebten, was heute Minderjährige mit sogenanntem Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Vor allem ein Umstand spielt dabei hinein: Oft verbrachten die Missionskinder mehr Zeit mit ihrer indischen oder afrikanischen Nanny, als mit ihrer viel beschäftigten Mutter. Letztere war absorbiert durch Bibelstunden für Frauen, Nähkurse und Krankenhausdienste.

So übernahm die Nanny eine ganz wichtige Stellung im Leben der Kinder. Das ging so weit, dass die meisten von ihnen die einheimische Sprache besser beherrschten als Deutsch. Die Muttersprache war also die Nanny-Sprache. In ihrem Resümee hält die Kulturwissenschaftlerin fest, dass die Kinder «in zwei Welten daheim  waren und in keiner ganz zu Hause. Ihr Leben war geprägt von Übergängen zwischen den Kontinenten, zwischen den Kulturen und all dem, was bei den Transitionen  verloren geht.»