Recherche 14. Juni 2021, von Cornelia Krause, Felix Reich

Gezielte Unterstützung statt Tüten mit Lebensmitteln

Sozialpolitik

Mit einem Pilotprojekt in Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen will die Stadt Zürich künftig Gelder an Armutsbetroffene verteilen. Das Vorhaben geht über die Pandemie hinaus.

Hunderte Menschen stehen in der Schlange. Bepackt mit Tüten und Trolleys warten sie, bis sie Lebensmittel erhalten. Es sind ungewohnte Bilder im wohlhabenden Zürich. In der Pandemie wurden sie Alltag. Bald soll es sie in dieser Form nicht mehr geben. «Wir wollen die Menschen gezielter unterstützen als durch Essensausgaben», sagt Raphael Golta (SP), Sozialvorsteher der Stadt Zürich, im Gespräch mit «reformiert.».

Übernehmen sollen vermehrt staatliche Stellen oder auf einzelne Bevölkerungsgruppen ausgerichtete Hilfsorganisationen. Im Mai kündigte Goltas Departement ein Pilotprojekt an, für das zwei Millionen Franken vorgesehen sind. Vier Hilfsorganisationen sollen die Gelder während 18 Monaten an die Bedürftigen bringen.

Die Kooperation zwischen Hilfsorganisationen und der Stadt ist nicht neu, seit Ausbruch der Pandemie hat die Stadt rund 750 000 Franken für Nothilfe ausgegeben, die Organisationen verteilten sie mit Spendengeldern von Glückskette und Privatpersonen an Notleidende, etwa in Form von Essensgutscheinen.

Aus Angst keine Sozialhilfe

«Die Behörden handelten schnell und lösungsorientiert», sagt Caritas-Direktor Max Elmiger, der ins Pilotprojekt eingebunden ist. Auch die Landeskirchen hätten tatkräftig unterstützt. «Aber wie bei der Pandemiebekämpfung geht es nun auch bei den Hilfen darum, von der akuten Phase in eine Stabilisierungsphase zu kommen.»

Die Ausgangslage ist fragil. Der Spendenfluss versiegt, und die wirtschaftliche Lage entspannt sich, die Öffnung der Gastronomie lässt hoffen, dass viele Betroffene wieder Arbeit finden. Die wirtschaftliche Basishilfe soll allerdings unabhängig von der Pandemie greifen. «Weiterhin wird es immer wieder Migrantinnen und Migranten geben, die ihren Job verlieren und denen wir helfen müssen», sagt Golta. Viele Ausländerinnen und Ausländer haben Angst, sich beim Sozialamt zu melden, obwohl sie eigentlich ein Anrecht auf Unterstützung haben.

Die Sozialhilfe kann sich negativ auf ihren Aufenthaltsstatus auswirken. Das Damoklesschwert, die Niederlassungsbewilligung zu verlieren, will nun eine parlamentarische Initiative von Nationalrätin Samira Marti (SP) entfernen: Menschen, die sich mindestens zehn Jahre legal in der Schweiz aufhalten, sollen Sozialhilfe beziehen dürfen, «ohne direkt mit einer Wegweisung konfrontiert zu sein».

Viele Fragen offen

Ohnehin keine soziale Sicherung haben Sans-Papiers. «Deshalb ist eine längerfristige Unterstützungsmöglichkeit wichtig», so Bea Schwager von Spaz. Die Anlaufstelle für Sans-Papier ist neben Caritas, Solidara und dem Roten Kreuz ins Pilotprojekt eingebunden.

«Wie ein Brennglas» lege die Pandemie Probleme offen, die schon länger existieren, sagt Beatrice Bänninger, Geschäftsführerin von Solidara Zürich. Das Hilfswerk, das stark von den Kirchen getragen wird, ist im Rahmen des Pilotprojekts für Prostituierte zuständig.

Zürcher Kirche will mit einer Million helfen

Um Menschen zu helfen, die wegen der Pandemie in finanzieller Not sind, hat die Kirchgemeinde Zürich 99 000 Franken bewilligt. Das Parlament soll den Betrag am 23. Juni auf eine Million aufstocken. Leute mit Wohnsitz in der Stadt Zürich erhal-ten maximal 3200 Franken, für Familien mit zwei Kindern gilt die Obergrenze von 4800 Franken, pro Kind kommen 1000 Franken hinzu. Unterstützt werden etwa Personen, die wegen der Kurzarbeit weniger verdienen und deshalb kaum noch über die Runden kommen. «Wir engagieren uns in der Lücke zur Basishilfe», sagt Kirchenpflegerin Claudia Bretscher. Die Stadt begrüsse die Initiative der Kirche.

Der Zeitplan ist ambitioniert, noch im Sommer soll die Basishilfe starten. Nur Menschen, die in der Stadt Zürich verankert sind, haben Anspruch darauf. Noch offen ist die Höhe der Basishilfe. Sie könnte sich an der Asylfürsorge als Existenzsicherungsniveau orientieren, sagt Golta. Noch laufen die Gespräche, spätere Anpassungen sind möglich.

Die Basishilfe ist eine mutige Antwort auf einen Missstand.
Nicolas Galladé, Sozialvorsteher der Stadt Winterthur

Offen ist auch noch, welche Rolle künftig die sozialen Initiativen «Essen für alle» und «Incontro» spielen werden, die zu Beginn der Pandemie die Nahrungsmittelausgaben auf die Beine gestellt haben. Golta geht davon aus, dass auch in Zukunft immer wieder Menschen mit Lebensmitteln unterstützt werden müssen. «Allerdings sollten sich die Angebote gezielt an ausgewählte Gruppen richten und möglichst mit einem Beratungsangebot verknüpft werden», sagt der Zürcher Stadtrat. 

Die Basishilfe könnte Schule machen. «Sie ist eine mutige, innovative Antwort auf einen gesetzgeberischen Missstand», sagt der Winterthurer Sozialvorsteher Nicolas Galladé (SP). Die Leuchtturmfunktion ist für Golta zwar schmeichelhaft, aber wenig erfreulich. «Wir beheben nur einen Systemfehler.» Wie Galladé fordert Golta, dass der Bund auf der Gesetzesebene für Ausländer Sicherheit beim Sozialhilfebezug gewährleistet. So wie es Martis Initiative verlangt, die auch bis in die EVP hinein Sympathien geniesst.