Recherche 11. November 2021, von Felix Reich

Verdammt gut durch die Krise gekommen

Diakonie

Am Diakonietag diskutierten im Grossmünster Persönlichkeiten aus Politik und Religion über die Pandemie und ihre Folgen. Ein unterhaltsamer, inspirierender und berührender Morgen.

Eine Altlast der Pandemie sei der «Netflix-Wahnsinn», sagte Christian Jott Jenny am Martinitag im Chor des Zürcher Grossmünsters. Der Kulturunternehmer, Tenor und Gemeindepräsident von St. Moritz diskutierte mit dem Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker und Vreni Giger, die das Restaurant Rigiblick führt, über die Folgen der Corona-Politik. 

Für das Handeln des Staates hatte Jenny vor allem Lob übrig. «Wir sind verdammt gut durch die Krise gekommen», sagte er. Aber eben: Nun müssten sich die Menschen wieder aufraffen und ihr Sofa verlassen. «Die Veranstalter von Konzerten und Theatern sowie die Kinos leiden weiterhin.» Und Kultur funktioniere doch eigentlich nur in der Gemeinschaft. 

Kreativität in der Krise

Wenn Gemeinschaft nicht mehr möglich ist, leiden natürlich auch die Religionen. Trotz physischer Distanz soziale Nähe zu schaffen, sei die grosse Herausforderung der Pandemie, sagte Rabbiner Noam Hertig. Die Massnahmen hätten das religiöse Leben stark eingeschränkt, denn die Synagoge sei «ein Haus der Versammlung». 

Hertig betonte, dass sich auch orthodoxe Gemeinschaften an die Auflagen gehalten hätten. «Wir mussten kreativ werden im Lockdown, von dieser Kreativität profitieren wir weiterhin.» Auch Imam Sakib Halilovic unterstrich, dass der Schutz des Lebens und damit auch die Einhaltung der Schutzmassnahmen eine religiöse Pflicht sei. «Erstmals luden die muslimischen Gemeinden die Menschen nicht mehr in die Moscheen ein, sondern riefen zum Gebet zu Hause auf.» Die Pandemie bezeichnete er als Prüfung. 

Paradoxes Privileg

Im Gefängnis Pöschwies, wo Halilovic als Seelsorger arbeitet, waren die Pfarrerinnen und Pfarrer, Imame, Priester und Rabbiner zuweilen die einzigen Personen, die noch Zugang zu den Gefangenen hatten. Im Gegensatz zur Aussenwelt gab es im Gefängnis jedoch keinen Lockdown. Gottesdienste und das Freitagsgebet sowie der religiöse Unterricht blieben innerhalb der Gefängnismauern möglich. «In dieser Hinsicht waren wir als Seelsorger im Gefängnis paradoxerweise privilegiert», sagte der Imam. 

Künstlerischer Impuls

Der Film «Ver_Luscht: Es Nahtänke über Corona in Bild, Tanz und Wort» entstand auf Initiative des Corona-Manifests der Zürcher Kirchen und wurde vom Sozialamt der Stadt Zürich finanziert. Er wird in den Katalog von Relimedia aufgenommen und steht dann Kirchgemeinden und Pfarreien an Veranstaltungen und in der Erwachsenenbildung als Impuls für Diskussionen über die Pandemie zur Verfügung. Im Film kommen Menschen zu Wort, die an Covid-19 erkrankt sind. Ein Tänzer und eine Tänzerin setzen die auftauchenden Motive in einprägsame Bilder um. Die Musik von Fatima Dunn grundiert den Kurzfilm.

Die katholische Seelsorgerin Rita Inderbitzin, die für die ökumenische Bahnhofskirche in Zürich arbeitet, unterstrich ebenfalls den Wert der Gemeinschaft und der Anteilnahme. An Weihnachten vor einem Jahr habe sie Essenspakete an Bedürftige verteilt. «Viele sagten mir: Dass wir zu essen bekommen, ist nett, aber was wirklich bräuchten, ist, an Weihnachten nicht allein zu sein.» In der Pandemie sei das «Gemeinsame, das Tragende» für viele Menschen weggebrochen. Und so lautete Inderbitzins Appell: «Wir müssen vermehrt machen, was wir predigen und in Solidarität weiterleben.» 

An einem kritischen Punkt

Während der von der Publizistin Esther Girsberger moderierten Diskussion war eindrücklich zu beobachten, wie sich die Konfessionen und Religionen die Bälle zuspielten. Und so betonte Michel Müller, Kirchenratspräsident der reformierten Landeskirche im Kanton Zürich, im Einklang mit allen Diskutierenden die Rolle der Religionen: «Als Kirche müssen wir gesprächsfähig bleiben und zuhören, selbst wenn das in einer aufgeheizten Atmosphäre zuweilen schwer fällt.» 

Sorge bereitet Müller, dass sich der Fokus der Debatte «vom Schutz der Schwachen hin zur Angst vor Diskriminierung verschoben hat». Ein kritischer Moment war für Müller die Einführung der Zertifikatspflicht. Seither habe sich die Debatte auch innerhalb der Religionen verhärtet. «Wir müssen aufpassen, dass wir von einer Gesellschaft, die zu Beginn der Pandemie den Schutz der Schwachen im Blick hatte, nicht zu einer Gesellschaft werden, in der die Menschen nur noch an ihre individuellen Freiheiten denken.»

Das rettende Zertifikat

Dass das Zertifikat für die Gastronomie eine grosse Erleichterung ist, hatte Rigiblick-Wirtin Vreni Giger in der ersten Diskussion betont. Die Gästezahlen seien inzwischen wieder so angestiegen, dass sie händeringend nach Personal sucht. Auch Jenni berichtete von Rekordbuchungen in den Hotels im Oberengadin. 

Regierungsrat Stocker nannte die Belegung der Intensivstationen durch Covid-Patienten die Schlüsselzahl für die Corona-Politik. Die Kunst sei, die Belastung des Gesundheitssystems drei Wochen vorherzusehen. Vor einem Wechsel von der 3G- auf die 2G-Strategie, die faktisch einen Ausschluss nicht geimpfter Personen vom öffentlichen Leben bedeuten würde, hat der Finanzvorsteher «grössten Respekt». Denn ein solcher Schritt «käme einer Zwangsmassnahme gleich».

Körper und Poesie

Die Bühnenpoetin Patti Basler protokollierte die beiden Diskussionen und fasste sie jeweils pointiert, gereimt und sprachakrobatisch zusammen. Abgerundet wurden die differenzierten und anregenden Gespräche durch die Premiere des Films von Tina Mantel und Raphael Zürcher. Die Tanzchoreographin und der Filmemacher hatten Menschen befragt, die an Covid erkrankt waren. Von den wunderbaren Celloklängen von Fatima Dunn unterlegt, berichten die Frauen und Männer von Isolation und Todesangst, Glauben und Umkehr. Es sind Protokolle existenzieller Krisen und sozialer Erfahrungen über die Pandemie hinaus. 

Die klug ineinander montierten persönlichen Geschichten werden künstlerisch übersetzt in den Tanz, in dem sich Körperlichkeit und Poesie berühren. Der ausdrucksstarke, einfühlsame Film, der als Diskussionsbeitrag gedacht ist und nun in Kirchgemeinden und Pfarreien gezeigt und diskutiert werden soll, eröffnet eine künstlerische, erzählerische Perspektive auf die Pandemie. 

Die Hoffnung bleibt

«Ich habe viel Hoffnung, mehr als noch vor der Pandemie», sagt eine Stimme am Ende des Films. Es ist die Grundstimmung, die auch die Veranstaltung, die im Rahmen des von Grossmünster-Pfarrer Christoph Sigrist initiierten Corona-Manifests 2020 stattfand, prägte.

Oder wie Kirchenratspräsident Michel Müller sagte: «Als Kirche haben wir eine frohe Botschaft zu verkünden.» Das bedeute auch, Krisen als Aufruf zu verstehen, solidarisch zusammenzustehen.