Schwerpunkt 27. Oktober 2021, von Cornelia Krause

Abriss, Verkauf, Neubau

Zukunft der Kirchenräume

Viele Kirchenräume werden zur Belastung. In der Stadt Basel treffen die Gemeinden schwierige Entscheide. Und bauen eine Kirche für die Zu­kunft – aller­dings mit privatem Geld.

Der Wetterhahn auf dem Kirchturm glänzt in der Morgensonne, es ist ein wolkenloser Spätsommertag. Stephan Maurer steht auf der Baustelle in Bettingen. Die Grünstreifen vor dem Gebäude sind noch unbepflanzt, die Parkplätze abgesperrt. Der Neubau aus beigem Kalksteinbeton hat Symbolcharakter. «Selbst aus den eigenen Reihen haben manche gefragt: ‹Was macht ihr da eigentlich?›», sagt Maurer, Kirchenrat von Basel-Stadt. Was die Basler Reformierten machen, scheint angesichts schwindender Mitgliederzahlen schon fast unerhört: Sie bauen ein Gebäude fürs Kerngeschäft. Eine Kirche.

Im hellen Kirchenraum ist der Orgelbauer zugange, Pfeifen liegen herum, es fehlen die Stühle. An der Eröffnung Mitte November sollen sie stehen, 120 Menschen haben hier dann Platz. Der Neubau von Architekt Andreas Hindemann ist multifunktional. Zwar hat der Kirchenraum «sakralen Charakter», unter anderem wegen des Oberlichts, das am höchsten Punkt des Daches einfällt – dort, wo der Abendmahlstisch stehen soll. Doch der Raum ist nicht nur für den Sonntagsgottesdienst gebaut, der immer weniger besucht wird. Er lässt sich abdunkeln für Konzerte, Theater- oder Filmvorfüh­rungen. Selbst Kirchenfeste der Gemeinde mit ihren 300 Mitgliedern können darin stattfinden.

Im Untergeschoss entstehen mit Hilfe faltbarer Trennwände zwei Räu­me, einer prädestiniert für Bibelkreise oder Meditation. In einen weiteren Raum soll der Töggelikasten einziehen – für die Jugendarbeit. Stühle, Tische, Gerätschaften verschwinden in grossen Einbau­schrän­ken. Die Solarpanels auf dem Dach produzieren mehr Strom, als die Kirche braucht. «Das ist eine Kir­che, die wirklich den Menschen dient», sagt Maurer. Anders als die baufällige Baracke, die zuvor in Bet­tingen jahrzehntelang als Kirche genutzt wurde.

Das Erbe wiegt schwer

Anders auch als viele Kirchen, die Maurer in seinem Immobilienportfolio hat. Der 63-Jährige einstige SBB-Manager ist Pragmatiker und problemerprobt. Das Immobiliendossier, das er seit zwölf Jahren verantwortet, ist dennoch eine spezielle Herausforderung.

Denn am Ende geht es nicht nur um schöne, oft denkmalgeschützte Kirchenräume, sondern um bares Geld. Und das ist bei der Basler Kirche knapp bemessen; tiefrot war das Betriebsergebnis 2020. «Im Bettelgewand» erscheine die Kirche, schrieb die Lokalpresse. Selbst die langfristige Finanzierung des Religionsunterrichts ist nicht gesichert.

In 60 Jahren auf knappes Fünftel geschrumpft

Im Gartenlokal um die Ecke erklärt Maurer die Misere. Anders als viele andere Deutschschweizer Kantone finanzieren sich die Reformierten der Stadt Basel durch die eigenen Ein­­nahmen, ohne Steuerbeiträge von Firmen. Die Kirchensteuern sind höher als etwa in Zürich. Das tröstet kaum angesichts des Mit­gliederschwunds. 1960 hatte Basel noch 132'000 Reformierte, jetzt sind es noch 25'000.

Man kümmert sich umeinander. Wie früher in der Kirchgemeinde.
Tobit Schäfer, Wibrandis-Stiftung

«Mit Blick auf die Strukturen sind wir mit Genf und Neuenburg vergleichbar. Allerdings haben wir das grös­­sere architektonische Erbe.» 25 Kirch­gebäude verwaltet Maurer. Vie­­le werden immer weniger gebraucht, aber sie kosten: mehrere Millionen im Jahr an Unterhalt, Sanierungskosten, Versicherung. Nur in Einzelfällen gibt es Geld vom Staat, etwa für den Unterhalt des Basler Münsters, des Wahrzeichens der Stadt.

Der Frust ist gross. Die Kirche müs­se nicht in totes Gestein investieren, sagte Kirchenratspräsident Lukas Kundert der «Basler Zeitung». «Ihre Finanzen sind für die Armen und das Evangelium vorgesehen.» Maurer, dem Verwalter des toten Ge­steins, sind Kirchgebäude aus den 50er- und 60er-Jahren mit Nebengebäuden für Seniorenkreise, Eltern-Kind-Singen und externen Veranstal­tungen am liebsten.

Bedeutsame Kirchen sind Problemimmobilien

Die kunsthistorisch bedeutsamen Altstadtkirchen sind dagegen Pro­blemimmobilien. «Sie sind schwer be­heizbar und gerade mal für den Sonntagsgottesdienst geeignet.» Re­novationsprojekte unter strengen Auflagen der Denkmalpflege gehen schnell in die Hunderttausende. Die neuromanische Pauluskirche würde er auch «für einen Franken verkaufen», sagt Maurer. «Besser, als dass sie verfällt.»

Das finanzielle Dilemma hat sich angekündigt, der Abwärtstrend begann in den 70er-Jahren. «Wir hätten uns des Problems früher anneh­men müssen», räumt Maurer ein. Zwar lagerte die Kirche rentierende Immobilien wie Pfarrhäuser und Wohnungen für die externe Vermietung schon vor Jahren in eine ei­gene Gesellschaft aus. Doch vom Ziel, die schwindenden Steuereinnahmen mit Vermietung ausgleichen, ist man weit entfernt.

Es gibt keine Tabus

Maurer lotet für die Kirchen Lösungen aus. Vermietung, Verkauf, Abriss – in Basel gibt es keine Tabus. Gleichzeitig enge Grenzen. «Supermärkte, Autogaragen oder Fitnessstudios in Kirchen, wie man es in anderen Ländern sieht, lassen sich hier nicht machen, schon wegen der Denkmalpflege», sagt Maurer.

Mit der Martins- und neuerdings der Pauluskirche sind zwei reformierte Kirchen dauerhaft vermietet für Konzerte und Kulturevents. Trägerschaften übernehmen den Un­terhalt. Rendite bringt das kaum, doch es entlastet das Kirchenbudget. «Mehr Konzertkirchen braucht es in Basel aber nicht», sagt Maurer.

Gerne nimmt er als Mieter auch christ­liche Gemeinden, etwa Freikir­chen. Diese brauchen aber meist viele Parkplätze für auswärtige Mit­glieder und Schallschutz wegen der Musik. Für die St.-Alban-Kirche glück­te schon vor Jahren die Mietersuche. Sie wird von der serbisch-orthodoxen Kirche genutzt. Im Hirz­brunnenquartier am Rand der Stadt haben sich die Reformierten zu einem radikalen Schnitt entschieden: dem Abriss der Markuskirche.

Kirche weg, 25 Wohnungen hin

Der Glockenturm ragt noch über dem ru­higen Quartier empor. Doch dort, wo einst die Glocken hingen, klafft Leere. Vor dem Eingang stehen ein Müllcontainer und leere Blumenkübel. Nächstes Jahr sollen die Bagger auffahren, dann baut die Kirche 25 Wohnungen. Die Markuskirche stand nicht unter Denkmalschutz, die nahe gelegene katholische Kirche St. Michael schon. «Wir nutzen die katholischen Kirche künftig mit», sagt Maurer.

Im Pfarrgarten liegt Kinderspielzeug, Pfarrhaus und Kirche werden zwischenvermietet. Widerstand gegen den Abriss gab es kaum, 2009 wurde der letzte regelmässige refor­mierte Gottesdienst gefeiert.

Schmerzhaft sei so ein Entscheid, wenn es engagierte Gemeindemitglieder gebe, sagt Maurer. Für die Markusgemeinde sei jedoch die Pen­sionierung des Pfarrers der schmerz­lichste Moment gewesen. Die Stelle wurde eingespart. «Der Moment, in dem der Pfarrer aufhört, kann zum Schicksalsmoment einer Kirche wer­den», sagt Maurer. «Dass es uns damals nicht gelungen ist, das Gemein­deleben wiederzubeleben, ja, das ist bedauerlich.» Die geplanten Wohnungen sollen vor allem ältere Men­schen ansprechen.

Aber: Mit dem Projekt verliert das Quartier öffentlichen Raum. Nun führt Maurer Ge­spräche mit der Stadtbildkommission. Es geht um die Frage, ob und wie sich öffentlicher Raum in der neuen Überbauung erhalten lässt. «Vielleicht ein Raum der Stille? Wir werden sehen», sagt Maurer. Auch eine Kirchenglocke wird zur Erinnerung wieder aufgestellt.

Sechser im Lotto

Im Gotthelf-Quartier ist Maurer jedoch gelungen, was andernorts als Quadratur des Kreises erscheint: der Verkauf einer Kirche an eine Eigentümerin, die öffentlichen Raum erhalten will. Diesen Coup bezeichneten die Medien im Sommer 2020 als «Sechser im Lotto» für die Reformierten. Für über 4 Millionen Franken ging das Gemeindehaus Oekolampad an die Wibrandis-Stiftung, hinter der die Roche-Erbin Sabine Duschmalé steht.

Stiftungsvizepräsident und Geschäftsführer Tobit Schäfer führt durch das imposante Backsteinge­bäude am Allschwilerplatz, der Kom­plex stammt aus den 30er-Jahren. «Er wurde damals schon eher als Gemeindehaus denn als Kirche geplant», sagt Schäfer.

Der Moment, in dem der Pfarrer aufhört, kann zum Schicksalsmoment einer Kirche wer­den.
Stephan Maurer, Kirchenrat Basel-Stadt

In den 40er-Jah­ren sei der Gottesdienst einer der meistbesuchten in Basel gewesen. Doch 2011 war Schluss. Die Kirche vermietete Räume an Private und Firmen – ohne die Kosten zu decken. Im Kirchsaal hielt Mission 21 Konferenzen ab.

Schäfer sass kurzzeitig selbst in der Synode, er stellte den Kontakt zwischen Kirche und Mäzenin her. Ihn trieb die Suche nach einem neuen Standort für die Demenz-Stiftung Wirrgarten an, die er präsidiert. Im Nebenflügel, wo das mit dem Umbau beauftragte Architekturbüro un­tergebracht ist, soll künftig die Tagesstätte beheimatet werden, im grossen Hof der Garten.

Weil der Komplex 3000 Quadratmeter Nutzfläche umfasst, kommen als künftige Mieter weitere Pro­jekte zum Zug, die Duschmalé unterstützt. Dort, wo im Kirchsaal mit seinen langgezogenen Fenstern gerade der Hausmeister das Parkett poliert, wird eine «Theaterbox» für das Vorstadttheater Basel eingebaut. So entstehen Bühne und Publikums­raum für 130 Personen.

Orgel und Kanzel blieben erhalten, in Absprache mit der Denkmalpflege, sagt Schäfer. «Der Kirchenraum soll spürbar bleiben.» Auch der Verein Amie Basel, der Mütter beim Berufseinstieg hilft, findet ein neues Zuhause – in Räumen, in denen einst Religion gelehrt wurde. In den schönsten Saal im ersten Stock soll das Quartierzentrum einziehen. Auch ein Bistro mit Aussengastronomie ist vorgesehen, für die Menschen aus dem Quartier und die Theaterbesucher.

Und doch, es gibt uns noch, wir machen was.
Stephan Maurer, Kirchenrat Basel-Stadt

Für Schäfer schliesst sich so ein Kreis. «Hier werden Feste gefeiert, es finden Begegnungen statt, man kümmert sich umeinander. Wie frü­her in der Kirchgemeinde.» Rund 20 Millionen Franken steckt die Stif­tung in das Projekt.

Die Sanierung ist aufwendig und kostspielig, nicht zuletzt wegen der veralteten Haustechnik und der Auflagen der Denkmalpflege. 300 Stühle werden restauriert, Fensterglas darf nur nach altem Herstellungsverfahren produ­ziert werden. «Das muss man sich leisten können, die Kirche könnte das gar nicht stemmen», sagt Schäfer. Mehr Glück als Verstand habe sie beim Verkauf von Oekolampad gehabt. Privates Geld dank dem in Basel verbreiteten Mäzenatentum kam ihr zugute.

Ein Fall für den Staat

Blieben die Spenden aus, müsste irgendwann der Staat vermehrt die Lücke füllen, sagt Kirchenrat Stephan Maurer. Auch für die Kirche in Bettingen spielten Grossspender die entscheidende Rolle. Sie finanzierten den Grossteil der 3,5 Millionen für den Bau. Je 400'000 Franken zahlten die Reformierten und die politische Gemeinde, denn in der Kirche sollen auch Abdankungen stattfinden. Auch die Katholiken be­teiligen sich, sie dürfen die Kirche für Kasualien nutzen.

Symbolträchtig werden Kosten reduziert: Die Küche stammt von Oekolampad; die Glocken sowie der Hahn, Letzterer entworfen von Celestino Piatti, zierten den Turm der Markuskirche. Maurer hofft, dass vorerst Ruhe einkehrt in das Immobiliendossier, «dass wir die restlichen Kirchen halten und mit Leben füllen können». Das Umfeld bleibt anspruchsvoll – «und doch, es gibt uns noch, wir machen was».