«Eine Kirche bleibt immer eine Kirche»

Zukunft der Kirchenräume

Kunsthistoriker Johannes Stückelberger sagt, warum Kirchen angemessen und sinnvoll umzunutzen sind. Und warum Kirchgemeinden ihre Gebäude nicht aus der Hand geben sollten.

Würden Sie in eine Bar gehen, die vormals eine Kirche war?

Johannes Stückelberger: Ja, vorausge­setzt, die Betreiber gehen beim Namen, der Ausstattung und dem Betrieb der Bar rücksichtsvoll mit der einstigen Bedeutung und Funktion des Ortes um. Hiesse sie «Satans Bar» – dieser Name ist mir tatsächlich schon begegnet –, würde ich sie auch aufsuchen, aber nur aus wissenschaftlichem Interesse, ohne zu konsumieren.

Warum?

Der Name ist reine Provokation. Eine Kirche bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung immer eine Kirche, auch wenn darin keine Gottesdienste mehr stattfinden. Deshalb ist es wichtig, dass die Werte, die man mit Kirche in Verbindung bringt, auch in der neuen Nutzung respektiert werden. Der Teufel ist zwar durchaus eine biblische Figur, doch hat sie in der Bibel einen Gegenpart, der fehlt, wenn man die Bar nur nach Satan benennt. Sinnvoller scheint mir, statt zu provozieren, das dem Ort eigene Potenzial zu nutzen und auf eine neue, originelle Art fruchtbar zu machen.

Johannes Stückelberger, 63

Johannes Stückelberger, 63

Studiert hat er Kunstgeschichte, Geschichte und Philosophie. Johannes Stückelberger ist Dozent für Religions- und Kirchenästhetik am Institut für Praktische Theologie an der Universität Bern sowie Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte an der Universität Basel. Sein Buch «Moderner Kir­chenbau in der Schweiz» erscheint demnächst im Theologischen Verlag Zürich.

Inwiefern kann der Besitzer dem Käufer Auflagen machen?

Die Kirche kann als Verkäuferin in einem Vertrag gewisse Nutzungsbe­stimmungen festhalten. Bei einem Weiterverkauf jedoch hat sie in der Regel kein Mitspracherecht mehr. Deshalb sollten die Kirchgemeinden ihre Gebäude nicht aus der Hand geben. Viel besser als der Verkauf ist die erweiterte Nutzung, das heisst eine Nutzung, an der sich, unter dem Lead der Kirche, mehrere Partner beteiligen. Solche Partnerschaften zu finden, braucht aber Zeit. Deshalb sollte man die Zukunft der Kirchengebäude nicht erst planen, wenn man finanziell mit dem Rücken zur Wand steht.

Die Kirche St. Josef in Luzern bezeichnen Sie als rundum geglückte Neunutzung. Warum?

Der Auslöser für die Neunutzung war hier kein finanzieller, sondern ein neues Pastoralkonzept, das von den Pfarreien verlangte, sich zu öffnen und ihre Räumlichkeiten vermehrt der Quartierbevölkerung zur Verfügung zu stellen. So finden heu­te in dieser Kirche neben Gottesdiensten zum Beispiel Konzerte, Ausstel­lun­gen, Feste, Prüfun­gen für Studierende, Badminton für Seniorinnen und Weiteres statt. Im benachbarten Pfarreiheim gibt es ein ständiges Café, und selbst der Kirch­turm ist als Lokal begehrt. Der Maihof, wie der Gebäu­dekom­plex seither genannt wird, ist zum lebendigen Treffpunkt gewor­den, und die 1600 Vermietungen pro Jahr machen das Konzept auch finanziell interessant.

Dass Kirchenräume flexibel genutzt werden, ist nichts Neues. Bereits in der Barockzeit wurden reformierte Kirchen so gebaut, dass sie als Saal von der Bevölkerung etwa für politische Veranstaltungen genutzt werden konnten.

Genau. Schon vorher, in der Refor­mationszeit, galt es, für Klöster und überzählige Kirchen Neu­nutzun­gen zu finden. Aus den Sakralräumen wurden Spitäler, Schu­len, Salz­lager, Pferdestallungen. Dies war möglich, weil nach reformiertem Ver­ständnis die Kirchen keine geweihten, heiligen Räume sind. Im Prinzip dürfen reformierte Kirchen für alles genutzt werden.

Im Prinzip dürfen reformierte Kirchen für alles genutzt werden.
Johannes Stückelberger, Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte

Wer entscheidet eigentlich, wie Kirchengebäude genutzt werden?

Primär die Eigentümerin. In der Regel sind dies die Kirchgemeinden. Sie sind verantwortlich dafür, dass die Kirchen angemessen genutzt, umgenutzt oder erweitert genutzt werden. Angemessen sind in der Re­gel Lösungen, bei denen die Kirchen nach wie vor einer öffentlichen Nutzung zur Verfügung stehen. Sol­che Lösungen sind auch möglich, wenn eine Kirche abgerissen werden muss. So hat man etwa in Basel auf dem Gelände der ehemaligen Kirche St. Christophorus einen Neubau errichtet mit Alterswohnungen, Kindergärten und einer kleinen Kapelle. Wichtig ist, dass ein Planungsprozess ergebnisoffen gestartet wird.

Kirchen sind meist geschützte Baudenkmäler. Wie bringt sich die Denkmalpflege in die Prozesse ein?

Die Denkmalpflege hat den Auftrag, schützenswerte Substanz zu erhalten. Am besten wird ein Gebäude erhalten, indem es genutzt wird. Die Denkmalpflege ist deshalb erweiterten und neuen Nutzungen von Kirchen gegenüber grundsätzlich offen eingestellt. Für eine neue Nutzung notwendige bauliche Massnahmen müssen jedoch von Fall zu Fall beurteilt werden. Ein Kriterium bei neuen Einbauten ist etwa, dass die Erkennbarkeit des Raums erhalten bleibt.

Kirchen sind ein Stück öffentlicher Raum. Wird solcher Raum pri­vatisiert, geht ein Stück Öffentlichkeit verloren.

In der Tat sind Kirchen öffentliche Räume. Deshalb sollte man sie nicht an Private veräussern, sondern öffentlichen Körperschaften wie etwa dem Staat zur Nutzung oder Mitnutzung zur Verfügung stellen. Dies garantiert auch längerfristige Lösungen. Wir dürfen uns auch nicht dem Gedanken verschliessen, dass die Hauptlast für den Unterhalt der Kirchen vielleicht wieder einmal an den Staat zurückgeht, der bis zur Trennung von Kirche und Staat ja für die Kirchengebäude zuständig war und es mancherorts bis heute ist. Den Staat kann man aber nur in die Pflicht nehmen, wenn ein Kirchengebäude weiterhin eine öffentliche Funktion hat.

In anderen Ländern befasst man sich schon länger mit der Um­nutzung von Kirchenliegenschaften. Was kann man von den Nachbarn lernen?

In Holland wurden in der Vergangenheit viele Kirchen an Private ver­kauft. Inzwischen hat dort ein Umdenken stattgefunden. Der Staat stellt Mittel zur Verfügung, um die öffentliche Nutzung der Kirchen zu erhalten und die Privatisierung zu stoppen. Auch in Deutschland gibt es staatliche Initiativen und Fördermassnahmen, um den Kirchen eine Zukunft zu geben.

Wären das auch Modelle für die Schweiz?

Absolut. Auch in der Schweiz werden die Kirchgemeinden die Verantwortung für die Kirchengebäude irgendwann nicht mehr allein tragen können. Wie sie unterstützt werden können und durch wen, dafür müssen Lösungen gefunden wer­den. Die Unterstützung kann finanzieller Natur sein. Hilfreich wäre aber auch die Bereitstellung von Fach­kompetenz. In anderen Ländern gibt es kirchliche Bauämter oder auch staatliche Stellen, die die Gemeinden beraten. In der Schweiz ist jede Gemeinde mehr oder weniger auf sich allein gestellt.

Einer Kirche kann eigentlich nichts Besseres passieren, als dass sie für andere Zwecke als den Gottesdienst genutzt wird.
Johannes Stückelberger, Titularprofessor für Neuere Kunstgeschichte

Nicht alle Kirchen werden umgenutzt. Was ist mit den anderen?

Der Anteil jener Kirchen schweizweit, die abgerissen, verkauft oder einer gänzlich anderen Nutzung zugeführt werden, bewegt sich prozentual im tiefen einstelligen Be­reich. Die meisten Kirchen in der Schweiz sind weiterhin im Besitz der Kirchgemeinden, die sie primär für ihre kirchlichen Anlässe nutzen. Allerdings nutzen die Kirchgemeinden heute die Kirchenräume intern flexibler und wollen sie auch vermehrt für externe Nutzungen zur Verfügung stellen. Viel häufiger als über Umnutzungen denken die Gemeinden über Möglichkeiten einer flexibleren Nutzung nach und ergreifen die dafür notwendigen bau­lichen Massnahmen.

Was passiert mit einer Kirche, wenn sie auch für andere Zwecke als den Gottesdienst genutzt wird?

Einer Kirche kann eigentlich nichts Besseres passieren. Ihre Funktion hat sich ja noch nie einzig darauf beschränkt, den Gottesdienstbesuchern ein Dach über dem Kopf zu bieten. Kirchen sind mehr als die «Vereinslokale» der Kirchgemeinden. Sie sind auch Kulturdenkmäler, Erinnerungsorte, Bauten, die un­sere Landschaften und Städte prä­gen und strukturieren, Orte, die selbst für jene Menschen eine Bedeutung haben, die sie nie betreten.

Was macht die Bedeutung der Kirchen für diese Menschen aus?

Interessanterweise setzen sich oft auch kirchenferne Menschen dafür ein, dass die Kirche im Quartier erhalten bleibt. Gerade in säkularen Gesellschaften haben die Kirchengebäude auch die Funktion, daran zu erinnern, dass Kirche und Religion Teil unserer Kultur, unserer kollektiven Identität sind. Kirchengebäude sind Zeichen dafür, dass Religion nicht ausschliesslich Privatsache ist, dass sie vielmehr eine Relevanz für die ganze Gesellschaft hat.