Schwerpunkt 17. September 2023, von Felix Reich

Wo die Stimmlosen ihre Stimme erheben

Geschichte

Das 1948 gegründete evangelische Tagungszentrum auf Boldern war ein Ort der politischen Debatte und der Innovation. Zwei frühere Studienleiter erzählen von ihren Visionen.

Eigentlich war ein Interview geplant mit Patrice de Mestral. Aber schon bevor die erste Frage gestellt ist, wird klar, das wird ein Gespräch. Der 90-jährige Theologe mit dem wachen Blick stellt die Fragen gleich selbst. Er erzählt, stellt infrage, was er sagt, bekräftigt seine Position erneut, bezeichnet sich als Kritiker der Institution Kirche und liebt die reformierte Landeskirche dennoch oder vielleicht gerade deshalb von ganzem Herzen.

Grenzen überwinden

Es boldert unvermindert in Patrice de Mestral. Denn dafür stehe Boldern: miteinander ins Gespräch kommen über die Grenzen der Meinungsblasen hinweg und an einer Kirche bauen, die sich einmischt in gesellschaftliche Debatten.

Rückzug der Landeskirche

Das Evangelische Tagungs- und Studienzentrum Boldern nahm den Betrieb 1948 auf. 2012 zog sich die reformierte Landeskirche des Kantons Zürich aus der Finanzierung zurück. Der Herbergsbetrieb ging in die Hotel Boldern AG über. Gastronomie und Hotel werden nun nach kommerziellen Kriterien geführt. 2022 wurde der Trägerverein zum Förderverein. Die Stiftung plant ein Wohnbauprojekt und will Boldern inhaltlich neu beleben.

Von 1965 bis 1978 war de Mestral als einer der sieben Studienleiterinnen und Studienleiter des evangelischen Tagungszentrums hoch über dem Zürichsee tätig. 24 Jahre später präsidierte er nochmals vier Jahre lang den Trägerverein Boldern.

Offen und kritisch

«Wir fühlten uns als Avantgarde der Kirche.» So umschreibt de Mestral das kollektive Selbstverständnis der Studienleitung auf Boldern. Er hatte zuerst an der Universität von Michigan drei Semester Ökonomie studiert, bevor er zur Theologie wechselte. Im amerikanischen Evanston schloss er sein Studium ab.

Zurück in der Schweiz wurde er nach Boldern berufen. De Mestral schweb-te eine Kirche vor, die sich nicht nur um sich selbst kümmert, sondern sich «offen und kritisch mit sozialen Fragen beschäftigt». 

Ringen und ermutigen

Das Instrument, die gesellschaftlich relevanten Themen der Zeit auf Boldern zu bringen, war für de Mestral das Gespräch. Deshalb sei der Konferenzsaal das Herzstück des Zentrums gewesen. Hier wurde erzählt und gestritten, um Verständnis gerungen und ermutigt.

Früh hatten sich die Berufsgruppentagungen etabliert, an denen sich Angestellte aus unterschiedlichen Betrieben über ihre Erfahrungen und Anliegen austauschten. De Mestral engagierte sich insbesondere dafür, dass auch Menschen, die in unterschiedlichen Welten leben, sich begegneten und in den Dialog traten.

Divisionäre und Dienstverweigerer

So lud er etwa Dienstverweigerer, denen damals Gefängnis drohte, und Divisionäre der Schweizer Armee gemeinsam nach Männedorf ein und liess sie in Kleingruppen diskutieren. Dass dies gelang, war in Zeiten des Kalten Krieges eine Pionierleistung. Noch im Jahr 1983 durfte Franz Hohler seine Übersetzung von Boris Vians’ «Le Déserteur» in einer Satiresendung des Schweizer Fernsehens nicht singen. 

«Natürlich blieben die inhaltlichen Differenzen auch nach den Debatten bestehen, doch die Diskutierenden lernten die persönlichen Geschichten hinter den Argumenten der Gegenseite kennen», sagt de Mestral. Dank des Gesprächs seien aus Feinden Gegner geworden.

Der Glaube an den Dialog

An diese Tradition knüpfte Hans Strub an, der von 1979 bis 1987 Studienleiter auf Boldern war und mit der Familie dort wohnte. «Ich glaube an den Dialog, solange ich lebe», sagt Strub. Und er hofft, dass sich die Debattenkultur auf Boldern wiederbeleben lässt. Der Förderverein, der seit der Auflösung des alten Tagungszentrums den Geist von Boldern bewahren will, organisiert zwar weiterhin einzelne Veranstaltungen. Strub hofft aber, dass wieder eine Studienleitung installiert werden kann.

«Personelle Konstanz ist wichtig, damit ein Zentrum Profil entwickeln kann», sagt der 1945 geborene Pfarrer. Die Idee von Boldern, gemeinsam mit Betroffenen Themen auf die Agen-da zu setzen und Gesprächsformate zu entwickeln, habe nichts an Aktualität verloren. 

«Ich bin optimistisch, dass die Zeit der Bewegungen wiederkehrt», sagt Strub. Boldern könne der Klimabewegung eine Heimat geben oder die Sehnsucht nach Frieden in einer kriegerischen Zeit neu ins Gespräch bringen. Er beobachte, dass die Men-schen «aus der Isolation der Kommentarspalten heraus in die direkte Debatte finden wollen».

Heimat in religionsloser Zeit

Auch Patrice de Mestral sieht das Konzept, das Boldern einst erfolgreich gemacht und ein beachtliches mediales Interesse geweckt hatte, nicht aus der Zeit gefallen. Natürlich sei die Epoche der klassischen Heimstätten definitiv vorbei. «Aber auch heute braucht es Orte, die Heimat bieten in einer religionslosen Zeit.» De Mestral träumt von einer kleinen Kommunität, die Boldern als Ort des Dialogs neu belebt.

Freilich klingt Dialog zu beschaulich für das, was Boldern einst ausmachte. Patrice de Mestral, der bis zur Pensionierung 19 Jahre lang als Gefängnisseelsorger arbeitete und danach ein Wiedereingliederungsprogramm für aus der Haft entlassene und in ihre Heimat ausgeschaffte Albaner aufbaute, sagt, er habe immer für eine Kirche gekämpft, «die für die schwächsten Glieder der Gesellschaft da sein muss». 

Anwaltschaft für Minderheiten

Als Studienleiter wollte er den Anspruch einlösen, indem er «den Stimmlosen eine Stimme» zu geben versuchte. Arbeiterinnen und Arbeiter, Emigrantinnen und Emigranten fanden im Zentrum Boldern Gehör. Später auch in der Kirche marginalisierte Gruppen wie Geschiedene oder homosexuelle Menschen. Die feministische Theologie hatte hier ein Zuhause.

«Für unsere Parteinahme für Minderheiten wurden wir aber auch hart angefochten», sagt de Mestral. Einmal habe der Kirchenratspräsident ultimativ seine Absetzung verlangt. De Mestral rettete, dass alle Studienleiterinnen und Studienleiter sich hinter ihn stellten und selbst mit der kollektiven Kündigung drohten, sollte er seine Stelle verlieren.

Die Kraft des Evangeliums

Nach der Zeit auf Boldern baute de Mestral die Arbeitsstelle für kirchliche Grenzgänger auf. Für ihn eine nahtlose Fortsetzung seiner Tätigkeit auf Boldern. Denn er wollte eine Kirche, die aus dem Evangelium die Kraft schöpft, sich an die Ränder der Gesellschaft vorzuwagen und sich den Menschen und ihren Nöten zuzuwenden.