Schwerpunkt 22. Februar 2023, von Cornelia Krause

Das Herz will zurück, der Kopf rät zum Bleiben

Ein Jahr Ukrainekrieg

Die Eltern haben Arbeit gefunden, die Kinder gehen zur Schule. Familie Ivanyshyn fand vor einem Jahr ein neues Zuhause im alten Pfarrhaus in Wädenswil. Aber die Sehnsucht bleibt.

Es gibt kein Weihnachtsfoto von 2022. Bogdan Ivanyshyn zeigt auf dem Handy Bilder von den Jahren zuvor: die jüngste Tochter Yaryna noch fast ein Baby auf dem Schoss der Mutter, der älteste Sohn Luka ein pausbackiger kleiner Junge. Auf einer späteren Aufnahme ist Yana, die Zweit­älteste, schon beinahe im Teenageralter.

«Die Kinder wurden grösser, aber wir haben immer das genau gleiche Foto gemacht», sagt der 51-Jährige in gebrochenem Deutsch. Ein geschmückter Weihnachtsbaum im Hin­tergrund, die Grosseltern rechts auf dem Sofa, daneben er selbst, seine Frau und ihre drei Kinder.

Weihnachten im Pfarrhaus

Vergangene Weihnachten feierte Ivanyshyn mit seiner Familie aber im alten Pfarrhaus der reformierten Kirche in der Zürcher Seegemeinde Wädenswil – 1500 Kilometer von den Grosseltern im ukrainischen Iwano-Frankiwsk entfernt. «Wir haben nicht einmal daran gedacht, ein Foto zu machen», sagt Ivany­shyns Frau Viktoria.

Seit Anfang März lebt das Paar mit den drei Kindern im Haus neben der Kirche. Zuerst teilten sie sich die Räumlichkeiten mit zwei weiteren Familien. Eine ist mittlerweile ausgezogen, deshalb haben die Ivanyshyns nun vier Zimmer zur Verfügung. Bad und Küche teilen sie mit den anderen Bewohnern.

Wir haben so viele hilfsbereite Menschen getroffen. Wir werden das nie vergessen.
Bogdan Ivany­shyn, Geophysiker und Schreiner

Die Familie ist in der Schweiz in vielerlei Hinsicht gut angekommen. Bogdan und Viktoria Ivany­shyn haben Arbeit gefunden. Er fährt für eine lokale Schreinerei Lieferungen aus. Viktoria Ivany­shyn – in der Ukrai­ne Biologielehrerin – hilft zehn Stunden pro Woche geflüchteten ukrainischen Kindern als Klas­senassistentin. Ab und an jobbt sie zusätzlich in der Gastronomie.

«Wir haben wirklich Glück», sagt ihr Mann und lächelt. Viele ihrer ukrainischen Bekannten hierzulande schrieben Bewerbungen und erhielten selten überhaupt Antwort. Bei den Ivanyshyns halfen Beziehungen: Den Kontakt zur Schulleitung stellte eine ukrainische Bekannte her, den zur Schreinerei ei­ne Kirchenpflegerin. «Wir haben so viele hilfsbereite Menschen getroffen. Wir werden das nie vergessen», sagt der Vater.

Der beste Ort für Schreiner

Die Schreinerei sei für ihn wie eine zweite Familie. Jeden Freitag sitze man nach Feierabend zusammen, der Chef sitze mit am Tisch. Bogdan Ivanyshyn ist nicht vom Fach, in der Ukraine arbeitet er als Geophysiker in der Ölindustrie. «Für Schreiner ist da, wo ich nun bin, der beste Ort der Welt», sagt er und unterstreicht seine Worte mit einer entschiedenen Geste.

An diesem Vormittag ist das Jahr noch jung, die Familie hat Ferien und sitzt im Aufenthaltsraum des Pfarrhauses. Auf dem Tisch steht ein kleiner roter Weihnachtsstern. Die jüngs­te Tochter malt mit Stiften Mandalas aus, während die Eltern und die Geschwister erzählen.

Alle Türen müssen immer offen stehen.
Viktoria Ivany­shyn, Biologielehrerin und Klassenassistentin

Bogdan und Viktoria Ivanyshyn berichten von der Flucht. Von den Bombeneinschlägen auf dem nahe gelegenen Militärflughafen, die sie vom Fenster aus sehen konnten. Von den ständigen Luftalarmen in den ersten Kriegstagen. Eines Morgens, die Sirenen hatten gerade aufgehört zu heulen, habe sie mit der jüngsten Tochter den Schutzraum verlassen, erzählt die Mutter auf Englisch. «Da schlug wieder eine Bombe in der Nähe ein.» Damit war der Entscheid gefallen. «Am nächsten Morgen setzten wir uns ins Auto und fuhren los.»

Eigentlich wollten sie nach Deutschland, doch als die Schweizer Regierung bekannt gab, dass die Schweiz den ukrainischen Geflüchteten den Schutzstatus S gewähre, änder­ten sie ihre Route. Nicht zuletzt, weil Bogdan Ivanyshyns Schwester mit einem Schweizer verheiratet ist und in Wädenswil wohnt. Die ersten Tage kamen sie in ihrer Wohnung unter, dann richtete die Kirchgemeinde das leer stehende Pfarrhaus in kürzester Zeit für die geflüchteten Familien ein.

Kinder mit Heimweh

Das im Krieg Erlebte wirkt nach, vor allem bei der jüngsten Tochter. Nachts will sie nur neben ihrer Mutter schlafen, auch der Lärm von Flugzeugen macht ihr Angst. «Alle Türen müssen immer offen stehen», sagt Viktoria Ivanyshyn.

Was der Krieg mit Kindern anstellt, weiss die Lehrerin auch aus ihrer Arbeit in der Zürcher Integrationsklasse. Sitzen dort neue Kinder aus der Ukraine, versucht sie erst einmal herauszufinden, wie es ihnen geht und ob sie psychologische Hilfe brauchen. «Die meisten erzählen mir, dass sie wieder nach Hause wollen.»

Ich vermisse es, ins Kino zu gehen oder mal zu McDonald’s.
Yana Ivany­shyn, Schülerin

Auch der 13-jährigen Tochter Yana fehlen die Freundinnen aus der Heimat. Obwohl sie in der Schule neue Kinder kennengelernt habe, aus der Schweiz und aus der Ukraine, wie sie sagt. «Ich vermisse es, ins Kino zu gehen oder mal zu McDonald’s.» Ausflüge nach Zürich, in Res­taurants oder Museen leistet sich die Familie selten.

Die Ferienzeit stellt sie auf eine harte Probe. Weihnachten feierten sie mit der Schwester. Auch Menschen aus der Kirchgemeinde kamen vorbei, brachten Geschenke und leisteten Gesellschaft. «Das war schön», sagt Viktoria. Aber nun fehle die Arbeit, die von der Sorge um Angehörige und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind, ablenkt. Menschen, die jeden Tag nur mit wenigen Stunden Strom auskommen müssen, weil Russland die In-frastruktur angegriffen hat und der Strom rationiert ist.

Zeit zum Grübeln

In den Ferien bleibt Zeit, um Nachrichten im Internet zu lesen und über die Zukunft nachzudenken. Es steht ein Umbruch an: Das Pfarrhaus wird im Sommer saniert, die Familie sucht eine neue Wohnung. «Das Herz will zwar zurück, aber der Kopf sagt, wir müssen noch blei­ben», sagt der Vater. Eine Heimkehr sei erst nach Kriegsende möglich. Wenn keine Gefahr mehr besteht, dass es wieder losgeht und Luka wo­möglich alt genug ist, um eingezogen zu werden.

Der 16-Jährige ist in der Berufs­wahlschule und hofft, in der Schweiz den Abschluss zu machen und irgendwann hier studieren zu können – am liebsten Jura oder IT. «Ich glaube, ich habe hier die besseren Chancen auf eine gute Ausbildung», sagt er. Denn auch die ukrainische Wirtschaft bereitet der Familie Sorgen. Die Region um Mariupol sei für sieben Prozent der Wirtschaftskraft der Ukraine verantwortlich gewesen, erzählt der Vater. Nun sei die Stadt ausradiert, vom Erdboden verschwunden.

Ich kann noch immer nicht verstehen, warum acht Millionen Menschen zur Flucht gezwungen wurden und die Leute in der Ukraine ohne Grund so leiden müssen.
Bogdan Ivany­shyn, Geophysiker und Schreiner

Lukas Hoffnung auf bessere Chancen in der Schweiz illustriert eine grundsätzliche Befürchtung der Eltern: Ihre Freunde sind nun über die ganze Welt verstreut, sie sind nach Deutschland, Grossbritannien, gar Australien und Kanada geflüchtet. «Was, wenn viele von ihnen dort­bleiben?», fragt sich der Vater besorgt.

Die Ukraine, in die die Familie irgendwann zurückkehrt, wird ein anderes Land sein. Ihm treten Tränen in die Augen. «Ich kann noch immer nicht verstehen, warum acht Millionen Menschen zur Flucht gezwungen wurden und die Leute in der Ukraine ohne Grund so leiden müssen.»

Für 2023 wünscht sich die Familie den Sieg gegen Russland. Aber noch ist ein Ende des Krieges nicht in Sicht. Und vieles in der Schwebe. Ob es doch ein Wiedersehen mit den Grosseltern geben wird? Gar ein Familienbild mit Weihnachtsbaum? Alle paar Tage telefoniere er mit seinen Eltern, sagt Bogdan Ivanyshyn. «Sie sagen dann immer, es gehe ihnen gut.»