Schwerpunkt 22. Februar 2023, von Constanze Broelemann

Die Bündner Berge geben ein Gefühl von Sicherheit

Ein Jahr Ukrainekrieg

Die Familien Pistunorytsch und Prochorow haben ein neues Zuhause gefunden. Ein Kind kam in einem Schweizer Spital zur Welt. Sie würden gerne bleiben, aber die Zukunft ist ungewiss.

Draussen ist es an diesem Wintermorgen ungemütlich kalt. In der Küche aber ist es heimelig. Ein Korb mit Tannenzapfen aus Schokolade steht auf dem Holztisch. Durch die Fenster sind am Horizont die Berge des vorderen Prättigaus zu sehen. Die sechsköpfige ukrainische Familie hat sich um den Tisch versammelt, dazu Irina Brunschwiler, die ins Deutsche übersetzt, und Daniela Gschwend von der Organisation «Kirchen helfen – Prättigau».

«Ich fühle mich hier geschützt», sagt Olena Pistunorytsch und nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Ein sicheres Gefühl geben der 42-jährigen Ukrainerin insbesondere die Berge, die sie seit fast einem Jahr umgeben. Sie wohnt mit ihrer Familie derzeit im bündnerischen Grüsch.

Keine freien Plätze in Deutschkursen

Neben ihr am Küchentisch sitzt ihre Tochter Anna Prochorowa. Sie hat alle Hände voll zu tun mit ihrem acht Monate alten Sohn Tamirlan. Prochorowas Gatte Witali ist ebenfalls zu Hause, obwohl er lieber auf dem Bau arbeiten würde. Aber das ist im Moment noch nicht möglich. «Es hat keine freien Plätze in den Deutschkursen», erklärt er. Und ohne gewisse Grundkenntnisse in Deutsch lasse man ihn nicht arbeiten. Es sei zu gefährlich.

Zur Familie gehören weiter der siebenjährige Mekkti – er ist Annas Sohn aus einer früheren Beziehung – sowie Swjatoslaw Pistunorytsch, der Sohn von Olena.

Wir waren sogar schneller als der Kanton und haben Pionierarbeit geleistet.
Daniela Gschwend, «Kirchen helfen – Prättigau»

Am 11. März vor einem Jahr war Olena mit der schwangeren Anna, Mekkti und Swjatoslaw aus Dnipro in der Ostukraine geflohen, jener Millionenstadt, die Mitte Januar 2023 Ziel eines russischen Raketenangriffs wurde. Ein Foto, das eine gemütlich eingerichtete, gelbe Küche in einem zerstörten Wohnblock zeigte, sorgte in den sozialen Medien für grosse Betroffenheit. Der Explosion fielen mindestens 30 Menschen zum Opfer.

Von Polen ins Prättigau

Nach den Strapazen der Flucht verbrachte die Familie drei Tage in einem Auffanglager in Polen. Dann wurden sie von einem Helfer kontaktiert, der ihnen vorschlug, in die Schweiz zu gehen.

Dieser Mann arbeitete mit dem Netzwerk «Kirchen helfen – Prättigau» zusammen; dieses charterte vor einem Jahr einen Bus nach Polen und holte 47 Ukrainerinnen und Ukrainer ins Prättigau. Die Initiative wird von der reformierten, der katholischen Kirche sowie von den Freikirchen des Vorder- und Mittelprättigaus getragen. «Wir waren sogar schneller als der Kanton und haben Pionierarbeit geleistet», berichtet Daniela Gschwend.

Ein Job als Küchenhilfe

Inzwischen wohnen Olena Pistunorytsch und ihre Angehörigen nicht mehr in der Wohnung ihrer Gast­mut­ter Zita Gander-Caprez. Diese hatte, um Olenas Familie Platz zu machen, ihre Wohnung geräumt und war für dreieineinhalb Monate zu ihrer Tochter gezogen. Nun hat die Familie im zweiten Stock eines älteren Hauses eine eigene Bleibe gefunden.

Gleich gegenüber befinden sich ein Bäcker und ein Supermarkt. «Wir sind zufrieden», sagt Olena. Sie komme zwar aus einer Grossstadt, aber in der Schweiz sei es auch auf dem Land komfortabel. Hier gebe es rundherum Natur und eine gute Infrastruktur, anders als in der ukrainischen Peripherie.

Ich bin zufrieden mit der Arbeit.
Olena Pistunorytsch, Köchin

Olena und ihr 14-jähriger Sohn Swjatoslaw beziehen jetzt kei­ne Sozialhilfe mehr. Seit eineinhalb Monaten hat sie eine 70-Prozent-Stelle in der Küche des Spitals in Schiers. Man hat ihr diese Anstellung angeboten, weil sie ausgebildete Köchin ist. «Ich bin zufrieden», sagt Olena erneut. Nur körperlich sei es etwas anstren­gend, merkt sie an. Manchmal bereite es ihr Mühe, die schweren Töpfe zu tragen. In der Ukraine kümmerte sie sich vor allem um die Kinder, im erlernten Beruf war sie weniger tätig.

Dann kommt Olena Pistunorytsch wieder auf den Krieg und ihre Flucht zu sprechen. Wie sie im Zug in den Westen einer Frau aus Butscha begegnete und diese ihr von den Massakern in der Stadt erzählte. Butscha, ein Vorort von Kiew, war im Frühjahr 2022 zum Schauplatz einer Reihe von Kriegsverbrechen geworden, die mutmasslich vom russischen Militär an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübt wurden. «Wie Tiere» seien die gegnerischen Milizen dabei vorgegangen, berichtet die Ukrainerin.

Die russische Übersetzerin weint

Die Übersetzerin und gebürtige Russin Irina Brunschwiler muss im­mer wieder innehalten, ehe sie Olenas Schilderungen übersetzt. «Mir macht das auch zu schaffen», sagt sie und wischt sich die Tränen aus den Augen.

Der 14-jährige Swjatoslaw möchte aber trotz des Grauens, das in seiner Heimat herrscht, so schnell wie möglich zurück. «Papa, Babuschka», antwortet er auf die Frage, warum. Zögerlich kommen die Worte aus seinem Mund. Neben seinem Vater und der Grossmutter – eben der Babuschka – vermisst er seinen Judotrainer und seine Freunde. Die­se seien alle in der Ukraine geblieben, sagt er. Via WhatsApp hält er mit ihnen Kontakt.

Für seine Mutter Olena sind seine Rückkehrwünsche typisch für einen Jugendlichen, der das Ausmass des Krieges nicht überblickt. Sie betont, dass es derzeit unerträglich wäre, in ihrer Heimat zu leben. Nicht zuletzt wegen der Schule: Kriegs­­bedingt habe man versucht, die Kinder digital zu unterrichten, aber dies habe nicht funktioniert.

Wie sind die wirtschaftlichen Perspektiven? Wie viel wird noch zerstört werden?
Anna Pistunorytsch

Etwas gefällt Swjatoslaw aber aus­­nehmend in der Schweiz, und sein Gesicht hellt sich merklich auf, als er davon berichtet: das Wandern. Mit seinem Freund Dimitrij geht er regelmässig auf Tour.

Swjatoslaw hat vor allem zu anderen ukrainischen Jugendlichen Kon­takt. Er besucht die Regelklasse mit zwölf Schülerinnen und Schülern und wird zusätzlich in Deutsch unterrichtet, von weiteren Sprachen ist er befreit.

Die Schule liegt ihm nicht so. In der Ukraine hat er viel Sport getrieben. In der Schweiz jedoch hat er es noch nicht geschafft, sich bei einem Verein anzumelden. «Wenn er wirk­lich zu seinem Vater zurückwill, dann darf er das – aber erst nach dem Krieg», betont Olena. Sie lebt mit ihrem Mann in Scheidung und möch­te selber auf jeden Fall in der Schweiz bleiben.

Ungewisse Zukunft

Auch ihre Tochter Anna denkt über die Zeit nach dem Krieg nach. Die 24-Jährige macht sich über die Zukunft der Ukraine Sorgen: «Wie sind die wirtschaftlichen Perspektiven? Wie viel wird noch zerstört werden?» Wenn ihr Mann Witali in der Schweiz Arbeit bekommt, kann sie sich gut vorstellen zu bleiben. Ihr siebenjähriger Sohn Mekkti jedenfalls fühlt sich in Grüsch wohl.

Vor einem Jahr noch wollte Anna nicht aus der Ukraine fliehen. Letztlich folgte sie aber dem Willen ihrer Mutter Olena und stieg in den Zug. Zu diesem Zeitpunkt war sie im achten Monat schwanger. Inzwischen ist ihr Sohn Tamirlan im Spital in Schiers zur Welt gekommen. Man habe ihr Eisen verabreicht und eine Rückenmarksnarkose. «Diese Versorgung hätte ich in der Ukraine nicht bekommen.»

Die Zukunft der Familie ist offen. «Schutzstatus S» steht auf den Aufenthaltsgenehmigungen, die auf dem Küchentisch neben dem Korb mit Schokolade liegen. Auf den Kar­ten ist der Mai dieses Jahres als Frist eingetragen. Unterdessen hat die Schweiz den Schutzstatus jedoch um ein Jahr verlängert. Was danach kommt, ist ungewiss. «Ich fühle mich von Gottes Händen getragen, weil es mir hier gut geht. Mit dem Kontakt zur Gastfamilie und den Bergen drumherum», sagt Olena.