Schwerpunkt 22. Februar 2023, von Cornelia Krause, Mirjam Messerli

«Zu Beginn war eine regelrechte Hilfseuphorie zu spüren»

Ein Jahr Ukrainekrieg

Elisabeth Wyss-Jenny von der Koordinationsstelle Flüchtlingshilfe in Winterthur zieht nach einem Jahr Bilanz: über Willkommenskultur und die Ungleichbehandlung von Geflüchteten.

Seit einem Jahr gibt es in Winterthur die Koordinationsstelle Flüchtlingshilfe, die Sie mit einer Kollegin leiten. Sie haben fast vom ersten Tag an Geflüchtete und Gastfa­milien begleitet. Gibt es eine Begeg­nung, die Ihnen besonders in Er­innerung geblieben ist?

Elisabeth Wyss-Jenny: Ich kann es nicht auf eine einzelne reduzieren. Es war immer wieder berührend zu sehen, wie aufopfernd sich Schweizer Familien um Gäste kümmerten. Ein älteres Ehepaar nahm beispielsweise die ukrainischen Gäs­te zur 1.-August-Feier mit, machte es möglich, dass sie beim Fest mithelfen und Kontakte knüpfen konnten.

Wie sieht Ihre Bilanz nach einem Jahr aus?

Insgesamt positiv. Wir konnten die Gastfamilien in der Stadt Winterthur gut begleiten, auch wenn die Voraussetzungen dafür anfänglich schwierig waren. Der Aufruf, Menschen aufzunehmen, kam von Campax und der Flüchtlingshilfe. Allerdings fiel die Unterstützung durch diese Organisationen viel geringer aus, als man den Gastfamilien versprochen hatte. Deshalb war es umso wichtiger, ein Ansprechpartner zu sein, um den Menschen Wertschätzung zu geben.

Fühlten sich die Gastfamilien vom Staat alleingelassen?

Ja, sie mussten viele Probleme zuerst selbst bewältigen. Wir haben dann Treffen mit Fachleuten zu verschiedenen Themen veranstaltet, et­wa zur Anmeldung des Schutzstatus oder zur Einschulung.

Es ist eine Grundsatzentscheidung, vor der viele jetzt stehen: Will man hier ein neues Leben aufbauen oder so schnell wie möglich zurück?

Welche Themen stehen jetzt an?

Vorrang hat die Arbeitssuche. Hier­­zulande muss jeder, der Sozial­hilfe erhält, dazu beitragen, seine finanzielle Situation zu verbessern. Das gilt auch für die Geflüchteten aus der Ukraine, die ja arbeiten dürfen. Jetzt streben die Kantone aber noch Verschärfungen mit Blick auf die Sozialhilfe an.

Ukrainerinnen und Ukrainer sind aktuell bessergestellt als andere, die Sozialhilfe beziehen.

Das ist so. Viele sind ja mit dem eigenen Auto geflüchtet, was natürlich Sinn macht. Aber Sozialhilfebezüger dürfen in der Schweiz nur ein Auto besitzen, wenn sie es zum Beispiel für die Arbeit brauchen. Das Gleiche soll künftig auch für die ukrainischen Geflüchteten gelten. Diskutiert wird auch darüber, das Vermögen in der Heimat zu überprüfen. Aber das wird in der Praxis schwierig umsetzbar sein.

Laut Angaben des Staatssekreta­riats für Migration arbeiten 14 Pro­zent der Geflüchteten. Ist das aus Ihrer Sicht viel oder wenig?

Ich finde das eher wenig, angesichts des freien Zugangs zum Arbeitsmarkt und jener Branchen, die händeringend nach Arbeitskräften suchen, insbesondere die Gastronomie und die Pflege.

Woran hapert es?

Vor allem an der Sprache. Der Arbeitsmarkt erfordert ein bestimmtes Sprachniveau. Einige, vor allem jüngere Menschen, haben sich sofort darangemacht und die nötigen Grundkenntnisse erreicht. Aber ältere tun sich oft schwerer. Und es ist auch eine Grundsatzentscheidung, vor der viele jetzt stehen: Will man hier ein neues Leben aufbauen oder so schnell wie möglich zurück?

Elisabeth Wyss-Jenny, 69

Schon ein ganzes Berufsleben lang arbeitet sie mit Menschen. Nach ihrer Ausbildung zur Primarlehrerin und Haushaltleiterin war Elisabeth Wyss-Jenny unter anderem als Erwachse­nenbildnerin tätig. Mit 39 Jahren studierte die Mutter von vier Kindern Theologie und war in Winterthur-Wülf­lingen Pfarrerin, danach im Kloster Kappel. Politisch engagiert sie sich bei der SP Illnau-Effretikon.

Was ist Ihr Eindruck: Leben die meisten mit gepackten Koffern?

Wir haben eine telefonische Umfra­ge unter mehr als 50 Gastfamilien gemacht. Rund 60 Prozent der Ge­flüch­­teten gaben an, in die Heimat zu­rückkehren zu wollen. Die Frage ist, wann das möglich sein wird.

Wie steht es um die soziale Integration der Menschen?

Die gestaltet sich zögerlich. Ob es an uns Schweizern liegt oder an den Geflüchteten, kann ich nicht beurteilen. Mittlerweile sind viele Geflüchtete in eigene Wohnungen gezogen. Dort sind sie isolierter als zuvor. Im Winter ist es schwieriger, sich zu treffen, als sommers, wenn das Leben draussen stattfindet. An­derer­seits schätzen viele es auch, eigene vier Wände zu haben.

Wie gross ist das Bedürfnis nach Austausch und Treffen?

Das ist wie bei uns auch. Einige suchen den Kontakt mehr, andere weniger. Zu unseren Anlässen kommen schon sehr viele. Aber einzig, weil die Leute aus demselben Land stammen, haben sie dennoch nicht das Bedürfnis, andauernd beieinanderzusitzen. Es können sich ja nicht alle automatisch leiden. Die meisten pflegen auch sehr enge Kontakte in die Heimat, zu ihren Männern, Söhnen, Grosseltern. Diese Menschen sind ihnen natürlich näher als andere Geflüchtete hier.

Sie koordinieren die Angebote der reformierten Kirchgemeinden in Winterthur. Was braucht es derzeit am dringendsten?

Ganz klar Deutschkurse. Sie sind das A und O. Auch Treffpunkte braucht es, wo die Leute ihr Deutsch üben können. Damit es dann mit der Suche nach einer Arbeitsstelle möglichst schnell klappt.

Die Kirchgemeinden bewegen sich eher träge, um es diplomatisch zu sagen. Mich stört es, dass sie selten vorangehen, sondern häufig hinterherhinken.

Sind Sie denn zufrieden mit dem, was die Kirchgemeinden auf die Beine gestellt haben?

Ich finde, vieles kam zögerlich, und es hätte auch viel mehr sein können. Einige Kirchgemeinden haben gute Projekte umgesetzt, etwa Treff­punkte für Geflüchtete geschaffen. Oft war dies aber einzelnen engagierten Mitgliedern in den Kirchgemeinden zu verdanken. Da gestaltet sich die Zussmmenarbeit mit der Stadt ganz anders.

Wie denn?

Die Stadt hat uns angefragt, und 14 Tage später lag ein Leistungsauftrag auf dem Tisch. So ein Tempo kennen Kirchgemeinden gar nicht. Sie bewegen sich eher träge, um es diplomatisch zu sagen. Mich stört es, dass sie selten vorangehen, sondern häufig hinterherhinken.

Viele Geflüchtete leben mittlerweile in eigenen Wohnungen. Einige Familien teilen aber nun schon seit einem Jahr ihre Wohnung mit ihren Gästen. Wie läuft es insgesamt?

Erstaunlich gut. Und man muss sagen: Ohne die Gastfamilien wäre es nicht gegangen, so viele Menschen so schnell unterzubringen. Natürlich gibt es aber auch ab und an mal Konflikte, neue Mitbewohner können ein Familiengefüge ganz schön durcheinanderbringen.

Wie zum Beispiel?

Ein Vegetarier etwa nahm Geflüchtete auf, die sich dann schon am Morgen Fischstäbchen brieten. Er sagte, er gebe sich Mühe, aber es klappe so nicht. Oder: Raucher und Nichtraucher in einer Wohnung. Solche Dinge hätte man vorher klären müssen. Aber es musste am Anfang sehr rasch gehen. Auch die Bevölkerung hatte das Bedürfnis, unkompliziert Hilfe zu leisten.

Hilfe im Auftrag von Kirche und Stadt

Der Stadtverband der reformierten Winterthurer Kirchgemeinden hat kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges eine Koordinationsstelle für Flüchtlingshilfe geschaffen. Elisabeth Wyss-Jenny und Daniela Roth-Nater analysieren seitdem im Jobsharing die Angebote der Kirchgemeinden und überprüfen, welche Projekte gebraucht werden und wo es Doppelspurig­keiten gibt.

Im Mai 2022 erhielt die Koordinationsstelle ein zweites Mandat von der Stadt. Dabei geht es um die Betreuung von Familien, die im Raum Winterthur geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen haben. Wyss-Jenny und Roth-Nater wurden so­mit offizielle Ansprechpartnerinnen für Gastfamilien bei Fragen im Umgang mit den Behörden oder bei Konflikt­situationen zwischen den Fa­milien und ihren Gästen.

Das Mandat des Stadtverbandes ist nicht auf ukrainische Geflüchtete begrenzt. Auf Anfrage des Kantons hilft die Koordinationsstelle zusammen mit der katholischen Kirche und der Or­ganisation Benevol neuerdings bei der Betreuung von Asylsuchenden, die in einer unterirdischen Zivilschutz­anlage untergebracht sind. So organisierte sie Sportkurse mit dem Verein Sportegration für die überwiegend jungen Männer aus Afghanistan, Burundi und anderen Ländern. In einem regelmässigen Deutschtreff machen die Menschen erste Schritte in der deutschen Sprache.

Hat sich diese Hilfsbereitschaft mittlerweile erschöpft?

Das würde ich nicht sagen, aber sie hat sich schon abgekühlt. Zu Beginn war eine regelrechte Hilfseuphorie zu spüren. Das hat sich verändert, vermutlich auch, weil der Krieg in den Medien nicht mehr ganz so präsent ist wie zu Beginn.

Kommen denn noch neue Menschen aus der Ukraine in Ihrem Ein­zugs­gebiet an?

Vereinzelt, und sie kommen dann meist in staatlichen Unterbringungen unter. Eine zweite grosse Welle ist ausgeblieben. Dafür sind andere Geflüchtete gekommen, aus Afghanistan, Syrien und dem Iran.

Menschen, die keinen Schutzstatus S haben und nicht arbeiten dürfen. Ist diese Ungleichbehandlung für Sie ein grosses Thema?

Das Mandat, das wir von der Kirche bekommen haben, beschränkt sich nicht auf Geflüchtete aus der Ukraine. Ich ertrage diese Ungleichbehandlung nur schwer. Ich finde es richtig, dass man den Ukrainerinnen und Ukrainern den Schutzstatus S gewährt hat und dass sie arbeiten dürfen. Aber jemand, der Syrien oder Afghanistan verlässt, macht das auch nicht zum Spass. Wir nehmen nur nicht zur Kenntnis, was in diesen Ländern passiert.