Schwerpunkt 22. Februar 2023, von Constanze Broelemann, Cornelia Krause

Im Gottesdienst muss die Politik draussen bleiben

Ein Jahr Ukrainekrieg

Die geflüchteten Menschen aus der Ukraine finden in der Kirche ein Stück Heimat. In der Schweiz haben auch griechisch-katholische und russisch-orthodoxe Gemeinschaften Zulauf.

«Jeden ersten und dritten Sonntag im Monat Gottesdienst der ukrainisch-griechisch-katholischen Gemeinde», steht auf einem Zettel im Schaukasten neben dem Eingang zur St. Luziuskirche in Chur. Auf Ukrainisch und Deutsch lädt Priester Oleh Oleksiuk an diesem Wintermorgen seine Landsleute in die katholische Kirche ein.

Die Gottesdienste geben Ukrai­nerinnen und Ukrainern, die geflüchtet sind, eine neue geistliche Heimat. Seit Ausbruch des Krieges sind rund 70'000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz gekommen. Das hat auch Auswirkungen auf die Auslandskirchgemeinden.

60 Prozent sind orthodox

Sechs Pro­zent der Menschen in der Ukraine gehören der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche (UGKK) an, sie ist die drittgrösste Kirche des Landes. Die Mehrheit der Bevölkerung, etwa 60 Prozent, ist orthodox und damit entweder Teil der orthodoxen Kirche der Ukraine oder der ukrainisch-orthodoxen Kirche (UOK).

Aufgrund des Krieges finden viele Ukrainerinnen und Ukrainer wie­der den Weg in die Kirchen.
Oleh Oleksiuk, Priester in Chur

Schon vor dem Krieg gab es in der Schweiz Gemeinden der UGKK in Zürich, Lausanne, Bern, Genf und Basel. Neu finden Gottesdienste in weiteren Orten statt, etwa in St. Gallen und Interlaken. «Als grösste neu gegründete Gemeinde ist nun Chur dazugekommen», sagt Nazar Zatorskyy. Der ukrainische Priester koordiniert die Seelsorge für seine Landsleute in der Schweiz.

Keine Politik in der KircheOleh Oleksiuk, Priester in Chur, zählt meist 50 Gottesdienstbesucher – an grossen Feiertagen wie dem Nikolausfest waren es auch schon mehr als 100. Zu Beginn der Feier übergeben ihm die Menschen Gebetsanliegen, die sie auf weisse Zettel geschrieben haben. Sie bitten um Gesundheit, gedenken der Verstorbenen. «Die Menschen suchen vor allem Trost und Seelsorge», sagt Oleksiuk. Politische Themen klammert er konsequent aus: «Ich streue kein Salz in die Wunden. Das Grauen des Krieges kennen die meisten aus persönlicher Betroffenheit.»

Religionsunterricht für alle

Oleksiuk bietet auch Religionsunterricht für Erwachsene und Kin­der an. «Aufgrund des Krieges finden zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer wieder den Weg in die Kir­che. Selbst wenn sie ihr in der Heimat eher fernblieben», stellt er fest.

Oleksiuk ist mit seiner Frau und drei Kindern aus der Stadt Iwano-Frankiwsk geflohen und wohnt nun in Würenlos im Aargau. Für seinen Dienst wird er nicht entlöhnt. Viele katholische Landeskirchen unterstützen jedoch die Dienste ih­rer Glaubensgeschwister finanziell – so hat jüngst die katholische Landeskirche Graubünden einen Beitrag von 5000 Franken zur Unterstützung der Churer Gemeinde gesprochen. Die UGKK ist mit der römisch-katholischen Kirche uniert, folgt in der Liturgie aber dem byzantini­schen Ritus. Die Messe findet auf Ukrainisch statt.

Kirchenrechtlich befindet sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche in einem Schwebezustand.
Stefan Kube, Leiter des ostkundlichen Instituts G2W

Doch auch Gottesdienste der russisch-orthodoxen Kirche in grossen Städten wie Zürich haben vermehrt Zulauf. «Vermutlich, weil die Menschen diese Gottesdienste aus der Heimat gewohnt sind», sagt Nazar Zatorskyy. Daniel Schärer, Diakon der russisch-orthodoxen Auferste­hungskirche in Zürich, berichtet von rund 400 Menschen, die an hohen Feiertagen wie beispielsweise Mariä Himmelfahrt am Abendmahl teilnahmen – fast doppelt so viele wie in früheren Jahren.

Russisch-orthodoxe beten für den Frieden

Die Gemeinde gehört zum Moskauer Patriarchat, dessen Oberhaupt der Putin-Vertraute Kyrill ist. Politik habe aber keinen Raum im liturgisch geprägten, auf Kirchenslawisch und Deutsch gehaltenen Gottesdienst, sagt Schärer. «Wir beten für den Frieden, auch in der Ukraine. Wir wollen eine Kirche für alle sein.» Der Krieg zwingt die russisch-orthodoxen Gemeinden im Aus­land zum Spagat, nicht zuletzt, weil in der Liturgie auch für den Patriarchen gebetet wird.

In der Ukraine hat diese Problematik zur Spaltung der Kirche geführt: Im Mai sagte sich die ukrainisch-orthodoxe Kirche (UOK) von der russisch-orthodoxen los. «Kirchenrechtlich befindet sich die UOK seitdem in einem Schwebezustand», erklärt Stefan Kube, Leiter des ostkundlichen Instituts G2W.

Wir beten aber für unsere ukrainischen Soldaten und unser Land.
Olga Titkova, Pfarrfrau

Dennoch hat die abgespaltene Kirche unter Leitung des Kiewer Metropoliten Onufrij eigenen Angaben zufolge in elf Ländern Auslandsge­meinden gebildet, zwei davon in Bern und Zürich. Bis zu 30 Gläubige kommen jeweils zu Gottesdiens­ten in Bern, Thun, Biel und Zürich, wie es auf Nachfrage heisst. Unterstützung erhielten die Gemeinden teils von den jeweiligen reformierten Lan­deskirchen. Die zwei Priester der UOK sind ebenso wie Oleh Oleksiuk aus der Ukraine geflüchtet.

Gebete für die Soldaten

In Zürich finden die Gottesdiens­te im Kirchgemeindehaus Oerlikon statt. Gebetet werde auf Ukrainisch, die Liturgie sei auf Kirchenslawisch, sagt Pfarrfrau Olga Titkova. Auch in ihrer Gemeinde stehe nicht die Politik im Zentrum. «Wir beten aber für unsere ukrainischen Soldaten und unser Land.» Und statt für den Patriarchen Kyrill für den Metropoliten Onufrij.

Auch aussergewöhnliche öku­me­­nische Feiern bereichern seit einem Jahr das religiöse Leben in der Schweiz. Zu Ostern bereitet die reformierte Winterthurer Pfarrerin Esther Cartwright erneut einen Got­tesdienst mit einem ukrainischen griechisch-katholischen Pfarrer vor. Es ist das dritte Kirchenfest dieser Art. Zum Weihnachtsfest im Januar versammelten sich 300 Gläubige verschiedener Konfessionen zu einem Gottesdienst, an dem der strikt geregelte byzantinische Ritus und das freie Wort der reformierten Pre­digt zusammenfanden.