Schwerpunkt 25. Dezember 2024, von Mirjam Messerli

Die Nähe war einfach immer schon da

Grosseltern

Klaus (86) und Florian Bäumlin (22) verbindet eine enge Beziehung. Einst war es der Opa, der seinen Enkel trug, heute fühlt sich der Senior vom Junior in Alltagsdingen getragen.

Klaus Bäumlin stützt sich beim Gehen auf einen Stock aus Bambus mit gebogenem Griff. «Ich bin halt etwas wackelig geworden», sagt der 86-Jährige. Sein Gang mag vielleicht etwas unsicher geworden sein, doch der Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Bern und ehemalige Pfarrer demonstriert beim Besuch in seinem Haus mit Blick auf die Altstadt seine innere Stärke. Hellwach, verschmitzt und energisch zeigt er sich an diesem Nachmittag. 

Bäumlin stellt den Stock in die Ecke und packt mit an, als es darum geht, auf dem Balkon den Tisch und einen Klavierhocker für das Foto mit Enkel Florian ins beste Licht zu rücken. «Weisst du noch, Flo, auf diesem Hocker haben wir oft gesessen und vierhändig Klavier gespielt», sagt er. «Ja, wenn ich nicht üben wollte», erwidert Florian und lacht. 

Der 22-jährige Medizinstudent ist das jüngste der vier Enkelkinder von Klaus Bäumlin und seiner Frau. «Grosatt! Diesen Tisch müssen wir aber noch etwas abwischen», bemerkt er dann und holt einen Lappen aus der Küche.

Grossvater und Vaterfigur 

Bereits nach wenigen Minuten in diesem warmen Zuhause, das von Büchern, Notenblättern, Kunst und Pflanzen fast überzuquellen scheint, merkt man: Grossvater und Enkel sind im Hause Bäumlin ein eingespieltes Team. 

«Ich habe mit allen vier Enkelkindern ein herzliches Verhältnis, aber mit Florian teile ich eine besondere Geschichte», erzählt Klaus Bäumlin. Florian zog kurz nach seiner Geburt mit seiner Mutter zu Klaus und Ursula Bäumlin und wuchs zu einem grossen Teil bei den Grosseltern auf. Für Klaus Bäumlin, damals gerade frisch pensioniert, «ein grosses Geschenk». 

Und du hast aus allem ein Spiel gemacht – das machst du noch heute gern.
Florian Bäumlin, Enkel von Klaus Bäumlin

Noch einmal habe er so ein kleines Wesen um sich gehabt, noch einmal miterleben dürfen, wie ein Mensch wächst und lernt und sich entwickelt. «Es bereitete mir jeweils grosse Freude, mit Florian zu spielen», erinnert sich Klaus Bäumlin. «Und du hast aus allem ein Spiel gemacht», erwidert der Enkel. «Das machst du noch heute gern.» 

Musste der Holzboden in Klaus Bäumlins Arbeitszimmer gewischt werden, spielten Grossvater und Enkel einen imaginären Curling-Match. Aufräumen? Abwaschen? Alles ein Spiel! «Dafür erfindet der Gros­att noch heute neue Varianten», sagt Florian. Sein Grossvater könne die langweiligste Aufgabe in eine heitere Angelegenheit verwandeln. «Das bewundere ich.» 

Hoch oben durchs Quartier 

Eine der frühesten Erinnerungen von Florian an seinen Grossvater: wie dieser ihn spätnachts auf den Schultern durchs Quartier trägt. Er litt als kleiner Bub unter Pseudokrupp, und das Herumtragen an der frischen Luft half gegen die Atemnot. «Ich weiss noch, wie ich alles von hoch oben sehen konnte.» 

«Heute trägst du mich», wirft sein Grossvater ein. Der Enkel sei sehr hilfsbereit. «Wenn ich ein Problem mit meinem Computer habe, schaut er es sich an.» Und kürzlich hätten sie beide in einer eher abenteuerlichen Aktion Schnee vom ehemaligen Hühnerstall geschaufelt. 

Mehrmals wöchentlich kommt Florian, der auch einen guten Draht zu seiner Grossmutter hat, zum Essen. Klaus Bäumlin hat sich auf seine alten Tage noch das Kochen beigebracht, um seine Frau zu entlasten. Und auch, um eine Aufgabe zu haben, seit er mit dem Unterrichten an der Volkshochschule aufgehört hat. Er probiert gerne Rezepte aus. «Es schmeckt immer gut», sagt Flo. 

Flo lebt in seiner Zeit und Welt, ich in meiner. Aber wir haben einen gemeinsamen Boden, und wir lassen uns in unserer Verschiedenheit leben.
Klaus Bäumlin, Grossvater von Florian Bäumlin

Wer den beiden zuhört, spürt ihre innige Verbundenheit. Haben sie denn jemals Meinungsverschiedenheiten, gar Streit? Beide überlegen länger. «Meinungsverschiedenheiten vielleicht früher, als ich noch jünger und nerviger war», sagt Florian und zwinkert seinem Grossvater zu. 

Diskutiert hätten sie oft über das Thema Religion und Glaube. «Mein Grossvater hat natürlich versucht, mir seine Liebe für die Bibel und sein grosses Interesse an theologischen Fragen näherzubringen. Aber er gab mir nie das Gefühl, dass ich auf dieselbe Art glauben müsste wie er», sagt Florian. 

Das Rezept für ihre harmonische Beziehung beschreibt Klaus Bäumlin so: «Flo lebt in seiner Zeit und Welt, ich in meiner. Aber wir haben einen gemeinsamen Boden, und wir lassen uns in unserer Verschiedenheit leben.» Eigentlich, wirft Florian ein, sprächen sie zum ersten Mal so ausführlich darüber. «Unsere Beziehung war einfach immer da.» 

Stütze für Generationen 

Der Gehstock, der mit auf das gemeinsame Foto soll, gehörte Klaus Bäumlins Grossvater. «Der Stock stützte ihn, heute stützt er mich», sagt Bäumlin. Er musste ihn etwas kürzen lassen, weil der Grossvater grösser war als er. Ob er damit zum Wochenmarkt gehe, die Treppen hoch in sein Arbeitszimmer oder einfach spazieren: «Oft kommt mir dann mein Grossvater in den Sinn und Psalm 23: Dein Stecken und Stab trösten mich.» 

Florian wird diesen Stock eines Tages erben. Vielleicht wird er sich als alter Mann darauf stützen und an seinen Grossvater denken. «Für mich müsste ich aber den Stock wieder verlängern lassen», sagt er. Vielleicht reiche es ja, ihn ins Wasser zu stellen? «Dann wächst er wieder!» Und Grossvater und Enkel lachen laut heraus.

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