«Eigentlich hatte ich gar keine Zeit»

Grosseltern

Sie erweitern das enge Netz der Kernfamilie und gönnen den Kindern auch mal den «schönen Ausnahmezustand»: die Historikerin Heidi Witzig über die Rolle der Grosseltern. 

Was bedeutet es für Sie persönlich, Grossmutter zu sein? 

Heidi Witzig: Sehr viel. Meine Enkelin ist jetzt neun, mein Enkel 15 und einen Kopf grösser als ich. Als sie klein waren, habe ich sie immer mittwochs gehütet, obwohl ich damals als freischaffende Historikerin viel unterwegs war. Eigentlich hatte ich keine Zeit und konnte mir regelmässiges Hüten nicht vorstellen. Als ich dann aber mein erstes Enkelkind als Neugeborenes im Spital sah, traf es mich mitten ins Herz, und ich sagte: Ja, ich will!

Wie ist die Beziehung zu Ihren Enkelkindern heute? 

Die beiden wohnen in Winterthur in der Nähe und kommen mich oft besuchen. Unsere Beziehung ist in allen Teilen beglückend und schön.

Für unser Dossier suchten Redaktorinnen und Redaktoren nach Erinnerungsstücken an ihre Grosseltern. Von den Grossmüttern kam sofort viel zusammen, Grossvater-Stücke waren seltener. Zufall? 

Nein, kein Zufall. Wir sprechen hier von Grosseltern aus der Kriegs- und ersten Nachkriegsgeneration. Sie lebten zumeist noch in den traditionellen Rollenmustern: der Mann zu 100 Prozent im Erwerbsleben, die Frau zu 100 Prozent in der Familienarbeit. Da liegt es auf der Hand, dass sich der Enkelgeneration vorab die Grossmütter einprägten.

Und dann gibt es all die Verdingkinder, die gar nie das Privileg hatten, in eine Familie mit Eltern, Geschwistern und Grosseltern eingebunden zu sein.

Was für Erinnerungen haben Sie selbst an Ihre Grosseltern? 

Ich war oft bei den Grosseltern mütterlicherseits in den Ferien. Sie waren junge Grosseltern, entsprechend habe ich sie als «junge Alte» in Erinnerung. Speziell war, dass meine jüngsten Onkel und Tanten damals noch Teenager waren und immer noch in ihrem Elternhaus – also bei meinen Grosseltern – lebten. Im Gegensatz dazu war mein Grossvater väterlicherseits sehr alt, denn mein Vater war einer der Jüngsten von acht Kindern.

Die Erinnerungen an die Grosseltern sind meistens schön. Warum? 

Das trifft zur Hauptsache auf die Schweiz zu. Das Land blieb während des Zweiten Weltkriegs militärisch ja verschont. Die Väter und künftigen Grossväter überlebten den Aktivdienst praktisch alle. So blieb in der Schweiz auch die ökonomische Situation relativ intakt, und in den Nachkriegsjahren setzte der Wohlstandsboom früh ein. Grosskinder konnten ihre Grosseltern somit in einem gesicherten und behaglichen Umfeld erleben. Anders als so viele Kinder etwa in Deutschland, deren Väter und Grossväter im Krieg gefallen waren.

Vielleicht scheint es ja auch nur so, als hätten die meisten Menschen verklärte Erinnerungen an ihre Grosseltern. 

Richtig. Es sind nämlich vor allem Leute mit guten Erinnerungen, die erzählen. Schlechte Erinnerungen verschweigt man lieber. Und dann gibt es all die Verdingkinder, die gar nie das Privileg hatten, in eine Familie mit Eltern, Geschwistern und Grosseltern eingebunden zu sein. Weder kannten sie ihre Grosseltern, noch konnten sie im Alter selbst Grosseltern sein.

Heidi Witzig, 80

Sie studierte Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Zürich und Florenz. Seit 1986 ist Heidi Witzig freischaffende Historikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Alltags- und die Frauengeschichte. Bei der GrossmütterRevolution und den KlimaSeniorinnen gehört sie zu den Gründungsmitgliedern. 

Das Bild der Grosseltern hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt, von den gesetzten «Weissköpfen» hin zu «jungen Alten». 

Die Lebenserwartung ist mit dem Wohlstand gestiegen, und die Medizin macht laufend Fortschritte. 1880 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 42 Jahre, heute sind es über 80 Jahre. Grosseltern sind heute länger gesund und wirken oft jünger als Gleichaltrige vor einem halben Jahrhundert. Konnte man Ende der 1940er-Jahre, als die AHV eingeführt wurde, nach der Pensionierung noch mit ein paar wenigen Lebensjahren rechnen, so sieht man heute eine ganze Enkelgeneration aufwachsen.

Was können Grosseltern, was Eltern nicht können? 

Nach meiner Erfahrung können sich Grosseltern mehr Zeit nehmen. Und sie haben eine andere Rolle, dürfen ihren Enkelkindern einen angenehmen Ausnahmezustand bieten, nach dem Prinzip: zum Dessert zwei Glacen statt nur eine. So hielt ich es jedenfalls selbst mit meinen Grosskindern, und es war mit den Eltern abgesprochen. Aber die Schulaufgaben, die mussten sie auch bei mir machen, das war klar.

Was würde fehlen, wenn Kinder keine Grosseltern hätten? 

Das klassische Modell Mutter-Vater-Kind ist sehr in sich geschlossen. Eltern sind heute sehr nahe an ihren Kindern dran, coachen und trainieren sie, bringen sie zur Schule, betreuen sie generell sehr eng. Kinder brauchen aber mehr. Früher, in den Grossfamilien, war das Beziehungsnetz noch offener. Grosseltern sind wichtig, weil diese eine zusätzliche Dimension in die familiäre Struktur hineinbringen. Für Kinder, deren Grosseltern nicht mehr leben oder weit weg wohnen, wäre es auf jeden Fall schön und wertvoll, wenn eine alte Person im Wohnquartier ein bisschen Ersatzgrossmutter beziehungsweise -vater sein könnte.

Viele Grosseltern betreuen ihre Enkelkinder regelmässig und helfen so mit, Kita-Kosten teilweise einzusparen. Ist das in Politik und Gesellschaft angekommen? 

Es wird schon wahrgenommen. Die Betreuungsleistung der Grosseltern ist in der Tat gross. Laut Bundesamt für Statistik leisten Grossmütter und Grossväter hochgerechnet 160 Millionen Betreuungsstunden pro Jahr im ungefähren Wert von acht Milliarden Franken.

Optimal wäre, wenn sich Eltern hälftig in unbezahlte Care-Arbeit und Erwerbsarbeit teilen würden.

Sollte diese Leistung finanziell abgegolten werden? 

Ich frage mich, ob eine Monetarisierung die richtige Antwort ist, auch mit Blick auf Care-Arbeit generell und das Führen des Haushalts. Aber Arbeit ist es, das ist klar. Optimal wäre, wenn sich Eltern hälftig in unbezahlte Care-Arbeit und Erwerbsarbeit teilen würden.

Sie engagieren sich in der GrossmütterRevolution. Wie steht es derzeit mit dieser Bewegung? 

Angefangen hat es vor etwa 15 Jahren, die Pionierinnen von damals sind nun um die 80 und treten leiser. So wie ich auch, ich halte mich heute eher im Hintergrund. Jetzt ist eine neue Grossmüttergeneration am Drücker, mit neuen Themen.

Welche Themen sind das? 

Die politischen Forderungen nach einem sicheren und gesunden Leben im Alter sind dieselben geblieben, zum Beispiel in Sachen 2. Säule. Die GrossmütterRevolution setzt heute aber vermehrt auch auf die Förderung von Aktivitäten in allen möglichen kulturellen Bereichen, dazu auf die Vernetzung mit anderen Grosseltern in ganz Europa. 

Sie sind auch bei den KlimaSeniorinnen. Wie sehen Sie klimapolitisch die Zukunft der Jungen? 

Nicht besonders optimistisch. Ich habe mich aber engagiert, und die schlechten Prognosen muss ich nicht allein auf meinen Schultern tragen. Und doch bleibt die Frage: Genügt es, im Kleinen zu wirken, und im Grossen bleibt alles so, wie es ist? Wichtig ist, beides im Auge zu haben. 

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