Schwerpunkt 27. April 2022, von Christian Kaiser

Und ist doch rund und schön

Mond

Matthias Claudius’ «Abendlied» gilt als berühmtestes deutsches Gedicht. Mit ihm ist nicht nur ein Mond am Firmament der Lyrik aufgegangen. Es ist auch ein Glaubensbekenntnis.

Das Glas ist nicht halb leer. Auch nicht halb voll. Es ist. Und bleibt immer da. In seiner Funktion: sich füllend, tränkend. So könnte man die Erkenntnis des Dichters Matthias Claudius zusammen­fassen. «Seht ihr den Mond dort ste­hen?», fragt er uns alle. «Er ist nur halb zu sehen / Und ist doch rund und schön!», stellt er bei der Betrachtung des Halbmonds fest und schliesst vom Himmelskörper auf unsere beschränkte Wahrnehmung des Ganzen: «So sind wohl manche Sachen / Die wir getrost belachen / Weil unsre Augen sie nicht sehn.»

Für Goethe war dieser Claudius ein Einfaltspinsel, aber am Ende hat der ihn als Dichter übertrumpft.

Es ist die Schlüsselstelle seines Gedichts «Abendlied», auch bekannt als «Der Mond ist aufgegangen». Ein bescheidener Pfarrerssohn aus Holstein hat es geschrieben, den «Wandsbeker Boten» nannten sie ihn und er sich selbst. Für Goethe war dieser Claudius ein Einfaltspinsel, aber am Ende hat der ihn als Dichter übertrumpft. Claudius’ «Abendlied»  stellt sogar Goethes «Erlkönig» in den Schatten: Es ist das am meisten gedruckte Stück Lyrik.

Wir spinnen Luftgespinste

Die Claudius-Gesellschaft verlieh dem Gedicht das Prädikat «be­liebtestes christliches Volkslied». Denn es erinnert die Singenden in Gottesdiensten seit bald 250 Jahren daran, dass der Mond und andere manchmal unsichtbare Dinge in Wahrheit hell und vollkommen sind wie ein Kreis. Das ist und bleibt die viel zitierte und viel vertonte Hoffnung.

Neben der Version von Johann Schulz im Kirchengesangbuch exis­tieren über 70 Vertonungen. Darunter sind Werke von Schubert, Haydn, Heino, Carl Orff, Nena, Xavier Naidoo oder Herbert Gröne­meyer. Eigentlich unglaublich, dass ein so schlichtes Gedicht solche Wellen schlagen kann. In der zweiten Strophe heisst es: «Wir spinnen Luftgespinste / Und suchen vie­le Künste / Und kommen weiter von dem Ziel.» Was wäre denn dieses eigentliche Ziel? Und wie käme man da hin? Claudius gehörte zu jenen, die nicht anders können, als ihr Leben ganz in den Dienst der Sehnsucht zu stellen: ein dichtender Gläu­biger und glaubender Dichter, ein Mystiker. «Du lieber treuer frommer Gott!», spricht er sein Gegenüber an. Claudius war regelrecht «mondsüchtig».

Abendlied (Matthias Claudius, um 1778)

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.

Seht ihr den Mond dort stehen?
–Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.

Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.

Gott, lass uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Lass uns einfältig werden
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!

Wollst endlich sonder Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod!
Und, wenn du uns genommen,
Lass uns in Himmel kommen,
Du unser Herr und unser Gott!

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!

 

Sein «Abendlied» ist nur einer von vielen Mondtexten. Darunter sind auch zärtliche, ja augenzwinkernd erotische Briefe an Frau Mond. «Stille, glänzende Freundin, ich habe Sie lange heimlich geliebt», gesteht er. Schon als Knabe habe er «halbverstohlen hinter’n Bäumen» nach ihr Ausschau gehalten, «wenn Sie mit blosser Brust oder im Negligé einer zerrissenen Nachtwolke vorübergingen». Solches Pathos war auch Koketterie mit einer mondversessenen Zeit: der Romantik.

Lass uns ruhig schlafen

Tieck, Novalis, Fichte, Klopstock und Co. entdeckten Ende des 18. Jahrhunderts die Lust am Dunk­len, Geheimnisvollen, Irratio­nalen, und der Mond galt ihnen als dessen Verkörperung. Mond­gedichte und Mondscheingemälde waren en vogue, der Mond trat als Kuppler und Kinderfreund auf oder als Liebesgöttin. Es war ein Aufstand der Seele gegen eine rationale, sich dem Kalkül der Nützlichkeit unterwerfende Welt des mechanisierten Fort­schritts.

Auch das «Abendlied» strebt nach dem Transzendenten – und ist darum viel mehr als nur ein Kin­der­­schlaflied. Dafür hatte Matthias Claudius, Vater von einem Dutzend Kindern, «Ein Wiegenlied bei Mondschein zu singen» verfasst. Es ist aus der Sicht eines kleinen Mädchens geschrieben, das im Schoss der Mutter liegt:

«Der Mond beschien uns beide / Ich lag und schlief / Da sprach sie! ‹Mond, o! scheine / Ich hab sie lieb/ Schein Glück für meine Kleine!›»
Ganz nach dem Bibelzitat «Werdet wie die Kinder» mahnt auch das «Abendlied» diesen kindlichen Blick an. In seiner fünften Strophe heisst es:
«Lass uns einfältig werden / Und vor dir hier auf Erden / Wie Kinder fromm und fröhlich sein!» Die Strophe benennt, wofür die verborgene Seite des Mondes steht, und zeigt, wie man dort hinkommt: «Gott, lass uns dein Heil schauen / Auf nichts Vergänglichs trauen / Nicht Eitelkeit uns freun!»
Weder dieser Mond noch die Gedichte über ihn dürften je aus der Mode kommen.