«Das kulturelle Fossil in unserer Psyche»

Mond

Der Erdtrabant habe praktisch null Einfluss auf Menschen, Tiere oder Pflanzen, sagt Bernd Brunner. Er hat die Mythen und Märchen rund um den Mond erforscht und aufgezeichnet.

Was löst der Anblick des Vollmondes in Ihnen aus?

Bernd Brunner: Ich wohne ja abwechselnd in Berlin und Istanbul. Bei klarem Himmel ist der Anblick des Mondes über dem Bosporus jedes Mal gewaltig. Er erscheint riesig. Wenn ich ihn anschaue, spüre ich die Ewigkeit. Viele Mythologien zeu­gen ja von den überwältigenden Emp­findungen, welche die Schönheit des Vollmondes hervorrufen kann. Er bildete auch die Kulisse für sakrale Ereignisse: Krönungen und Ritualtänze, Hochzeiten zwischen Göttern und Göttinnen.

Die türkische Fahne zeigt eine Mond­sichel – wie die Flaggen anderer muslimischer Länder auch. Was hat es damit auf sich?

Muslimische Gemeinschaften orientieren sich am Mondkalender, und dieser richtet sich nach den Mondphasen: Ein Monat entspricht dem Zeitraum zwischen zwei Neumonden. Der Fas­tenmonat Ramadan beginnt traditionell mit der Sichtung der neuen Mondsichel des 9. Monats. Und was die Flaggen betrifft: Die Mondsi­chel, die einen Stern umschliesst, war zunächst nur das Zeichen für das Osmanische Reich. Erst im Lauf der Zeit fand sie auch Eingang in die Flaggen weiterer mus­limisch ge­präg­ter Länder.

Im Buch «Mond und Mensch» haben Sie die Beziehung des Menschen zum Mond durch die Jahrhunderte aufgezeichnet. Was interessiert Sie an dem Thema?

Faszinierend am Mond finde ich seine Symbolik: Er hat eine helle und eine düstere Seite. Damit eignet er sich als Metapher für Gegensätzliches und auch als Projektionsfläche sehr gut. Viel verrückter Irrglaube rund um den Mond hat damit zu tun. Mich interessieren diese seltsamen, kuriosen und überholten Vorstellungen rund um unseren nächsten Himmelskörper.

​Bernd Brunner, 58

Der Amerikanist und Kulturwissenschaftler arbeitete als Journalist und Sachbuchlektor. Heute schreibt er Sachbücher, die sich um Themen mit starker Symbolkraft drehen, und verwebt darin jeweils erzählerisch Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. In «Mond und Mensch – Die Geschichte einer besonderen Beziehung» hat er die Mythen und Legenden rund um den Erdtrabanten erforscht.

Mann im Mond, Mondgesicht, Kanin­chen – man kann alles Mögliche auf der Oberfläche sehen. Der Trabant gibt uns Erdenbewohnern seit Jahrtausenden Rätsel auf.

Ja, das besondere Muster von helleren und dunkleren Regionen und auch die Tatsache, dass sich seine Form im Lauf eines Monats verändert, lieferten immer wieder Anlass zu Spekulationen. Menschen ver­suchen, in der Struktur des Mondes und seiner wandelnden Erscheinung einen Sinn zu finden.

Welche gehören für Sie zu den skur­­rils­ten Ideen?

Das «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens» ist ein unerschöpf­licher Fundus. Vieles darin dreht sich um die schädlichen Wirkungen des Mondlichts. Noch im 19. Jahr­hundert kursierte in Mitteleuropa der Volksglaube, dass jeder, der bei Mond­licht arbeite, riskiere, von einer unsichtbaren Hand eine Ohrfeige verpasst zu bekommen oder sogar zu erblinden. Auch sei es keine gute Idee, Wäsche im Mondlicht zu trocknen, weil das den Stoff dünn werden oder giftigen Nachttau aufnehmen lasse.

Und wofür stand der Neumond?

Die vermeintliche Abwesenheit des Mondes verursachte Unbehagen: Sie war häufig von Angst begleitet und wurde mit dem Tod assoziiert. Tausende Generationen vor uns leb­ten ja in einer Welt ohne Kunstlicht und erlebten den Nachthimmel ganz anders. Sie verbrachten auch viel mehr Zeit im Freien. Die Nächte wa­ren eine körperliche und sinnliche Erfahrung. Mir fiel auf, dass der Mond in heissen Regionen stärker mit Schutz und Wohlbefinden konnotiert wird als in kälteren Zonen. Die Nächte bringen dort Abkühlung und Linderung.

Gibt es Gemeinsamkeiten in all den Mythologien rund um den Mond? 

In vielen Gemeinschaften betrachtete man Mond und Sonne als die wichtigsten Gottheiten. Über Kulturgrenzen hinweg dachte man sie sich in überlieferten Erzählungen oft in menschlichen Begrifflichkeiten: als Bruder und Schwester oder als Ehepaar. Mit dem Mond verbundene Mythen wirken zudem häufig paradox: Er galt sowohl als Quelle der Erneuerung als auch als Ursache für den Tod.

Der Mond galt als das kleine Licht, das die Nacht regiert, als Herrscher des Dunkels.

Und im Christentum, welche Rolle spielte der Mond dort?

Er gehört zur himmlischen Sphäre, und somit wurde er als göttlich und aus Äther bestehend betrachtet. Aber das lebenswichtige Licht und die Wärme gehen eben von der Sonne aus – «das grosse Licht, das den Tag regiert». Der Mond ist das «kleine Licht, das die Nacht regiert», und das ist wörtlich zu verstehen, denn die Nacht galt im Christentum vielen als die Zeit der Herrschaft des Teufels. Nur bei Mystikern, die ihre Vereinigung mit Gott in nächtlichen Gebeten erreichen wollten, war die Nacht besser angesehen. Der vorchristliche Mondglaube war natürlich verpönt.

Viele Menschen sind felsenfest davon überzeugt, dass der Mond unser Leben ganz konkret beeinflusst.

Die überwiegende Mehrheit der Studien kann keinen Einfluss des Mondes auf Menschen, Tiere oder Pflanzen nachweisen. Nehmen wir die Landwirtschaft: Manche Demeter-Bauern achten bei der Aussaat zum Beispiel auf die Mondphasen. Es gibt aber nach meinen Recherchen keinen unabhängig erbrachten Beweis dafür, dass dies die Erträge steigert. In der Schweiz, wo die Anthroposophie relativ stark ver­brei­tet ist, mache ich mich wohl unbeliebt mit dieser Aussage.

Was ist mit den Theorien, wonach es bei Vollmond mehr Unfälle gibt oder Geburten vorzeitig einsetzen?

Ich beobachte aggressives Fahrverhalten eher bei bestimmten Wetterlagen. Die wenigen Studien, die Zusammenhänge zwischen dem Mond und menschlichem Verhalten festhalten, sind statistische Ausreisser. Sie können mit der Fragestellung oder der selektiven Wahrnehmung von Wissenschaftlern zu tun haben. Interessant ist aber, dass man dennoch immer wieder mögliche Zusammenhänge untersucht.

Und was ist mit all jenen, die bei Vollmond nicht schlafen können?

Auch das ist mehr eine Blickweise des Menschen als eine Tatsache: Fällt die unruhige Nacht mit dem Vollmond zusammen, so denke ich, «klar, ist ja Vollmond». Ist aber gerade Neumond, kommt mir die Wirkung des Monds gar nicht erst in den Sinn. Es gibt eine Theorie, wonach die jahrtausendelange Auseinandersetzung mit dem Mond in der Psyche des Menschen eine Art kulturelles Fossil geschaffen hat: Überzeugungen, von denen wir uns fast nicht abbringen lassen.

Menschen wollen sich in einem grösseren Zusammenhang begreifen, da ist der Mond ein geeignetes Phänomen, um gewisse Sachverhalte zu erklären.

Trotzdem spielt der Mond in vielen Kulturen nach wie vor eine wich­tige Rolle: zum Beispiel im Ayurveda bei medizinischen Behandlungen. Ist das denn alles Humbug?

Tatsächlich werden in Indien Operationen mit hoher Blutungsgefahr bewusst nicht an Vollmondtagen durchgeführt. Ehen schliesst man anhand astrologischer Berechnungen. Ich möchte das überhaupt nicht infrage stellen. Menschen wollen sich in einem grösseren Zusammenhang begreifen, da ist der Mond ein geeignetes Phänomen, um gewisse Sachverhalte zu erklären. Es wäre auch scha­de, wenn uns die rein rationalen Erklärungen alle unsere Illusionen nähmen.

Auch die Wissenschaft war ja lange nicht frei von astronomischem Irrglauben rund um den Trabanten.

In der Tat: Zum Beispiel wurde immer wieder einmal über die Existenz weiterer Erdmonde spekuliert, die nur unter bestimmten Bedingun­gen zu sehen seien. Der Hamburger Georg Waltemath etwa behauptete noch kurz vor dem Ende des 19. Jahr­hunderts, eine ganze Gruppe von Zwergmonden beobachtet zu haben. Und Wilhelm Herschel war im ausgehenden 18. Jahrhundert über­zeugt, dass der Mond der Planet und die Erde der Satellit sei: «Sind wir für den Mond nicht ein grösserer Mond, als er für uns ist?» Herschel liess auch keinen Zweifel daran, dass er es vorziehen würde, auf dem Mond zu leben.

Es kommt einem so vor, als würde der Mond seit der Aufklärung stetig entmystifiziert. Verliert der Planet der Dichter seine Romantik?

Die Wissenschaft hat vieles entzaubert. Fortschritt geht oft mit einem Verlust an Fantasie einher, doch die Vorstellungskraft ist wichtig für die Menschen. Niemand hat das Recht, einem die romantischen Gefühle zu verwehren, die man mit dem Mond verbindet, oder einen daran zu hindern, sich inspiriert zu fühlen und ein Gedicht über ihn zu schreiben. Der Mond ist und bleibt der am besten sichtbare Himmelskörper am Nachthimmel für alle Menschen, und wir teilen mit ihm nun einmal eine sehr lange Geschichte. An dieser Tatsache kann auch der grösste Wissensfortschritt nicht rütteln.