Die rohen und die sanften Kräfte

Mond

Der Mond lässt mit seiner Gravi­tations­kraft die Meere an- und abschwellen. Wirkt er aber auch im Kleinen, auf Pflanze, Tier und Mensch? Man sagt es, weiss es aber nicht so genau.

Der Mond. Auf ihn werden nicht nur romantische Balladen gesungen und lyrische Texte verfasst. Ihm sagt man seit alters auch Wirkungen auf die Natur und den Alltag nach. Wissenschaftlich bestätigt ist wenig, am fassbarsten sind die Gezeiten. Sie sind durch die Gravitation des Mondes verursacht und lassen sich täglich beobachten.

Wer mitten im Meer auf einer kleinen Insel lebt, bei kräftiger Flut mit «Land unter» rechnen muss und jeden Tag das Naturschauspiel der Wellen und des Windes erlebt, hat einen besonderen Blick aufs Leben. Hildegard Rugenstein ist seit gut einem Jahr Pastorin auf Hallig Hooge, einer der zehn Halligen im Nord­friesischen Wattenmeer. «Hier wird man oft daran erinnert, wie klein und unbedeutend wir Menschen letzt­lich sind», meint sie.

Im Wandel der Gezeiten

Ebbe und Flut bestimmen den Alltag. Drohe eine Springflut, beginne das grosse Wegräumen, erzählt Rugenstein. Geräte, Gartenmöbel und andere Gegenstände kommen unter Dach, denn alles könnte gefährlich sein in den riesigen Wellen. «Die Kraft des Wassers zu erleben, flösst schon Respekt ein», sagt die 63-Jährige. Vielleicht seien die Leute an der Nordsee deshalb auf bodenständige Art mit der Natur verbunden. «Die Halligbewohner scheinen ein tiefes Urvertrauen zu haben. Sie sind präsent und jammern nicht rum.»

Als Jugendlicher lächelte ich, wenn die Mond­regeln erwähnt wurden. Heute sehe ich es anders.
Hans Ramseier, Landwirtschaftsdozent

Hallig Hooge ist mit 80 Mitgliedern eine sehr kleine Kirchgemeinde, und die Pastorin hat viel Zeit für Gespräche. So hätten sie sich kürzlich beim Seniorentreffen über die Kraft des zunehmenden Mondes un­terhalten. «Viele beobachten hier, dass Geburten eher bei Vollmond losgehen», erzählt sie. Und jemand habe sich an eine treffende Geburtsanzeige erinnert: «Trotz Ebbe ist Marie geboren.»

Auch die Geschichte der Kirche aus dem 17. Jahrhundert ist geprägt von den Gezeiten. So stammen Teile des Baumaterials und der Einrichtung von einer anderen zerstörten Kirche aus dem Wattenmeer. Und wenn der Wasserstand stark ansteigt, was bis zu zehnmal im Jahr vor allem im Herbst und Winter vor­kommen kann, heisst es auch in der Kirche St. Johannis «Land unter». Was allerdings kein Problem ist, denn der Fussboden besteht aus Mu­scheln. So kann das Wasser rasch wieder abfliessen.

Altes Bauernwissen

Die Wirkung des Mondes auf die Wassermassen des Meeres ist nicht alles. Auch die Pflanzen, ihr Wachstum, die Blüte und Frucht, soll er beeinflussen. Nicht von ungefähr sind in den traditionellen Bauernkalendern die Mond­phasen eingetragen. Nur: Handelt es sich hier um gesichertes Wissen oder doch nur um Aberglauben?

Hans Ramseier ist Professor für Pflanzenschutz und ökologischen Ausgleich an der Hochschule für Ag­rar-, Forst- und Lebensmittelwissen­schaften (HAFL) in Zoll­ikofen im Kanton Bern. Er hält fest: Wissenschaftliche Studien, die eine Auswirkung des Mondes auf die Landwirtschaft belegten, könne er nicht vorweisen. Jahrelange Beobachtungen aber schon – und diese zeigten deutlich: «Es hat schon etwas, das mit dem Mond.»

Mond und Mensch. Die Geschichte einer besonderen Beziehung I

Üble Schwellungen

Das Mondlicht solle, so glaubte man früher, nicht auf das Ehebett fallen. Und Kinder sollte man nicht im Mondschein zeugen. Das könne Fehlge­burten und Kinder mit Behinderungen zur Folge haben. Urinierte man in die Richtung des Mondes, konnte man sich eine üble Augenschwellung zuziehen. Dieser Aberglaube verflüchtigte sich in Europa erst zum Ende des 19. Jahrhunderts.

Dünne Kruste

Man solle im Mondlicht nicht tanzen, hiess es in alten Zeiten. Die Erdkruste hielt man zu diesem Zeitpunkt für be­sonders dünn. Ausserdem dachte man, die klopfenden und stampfenden Schritte der Tanzenden könnten Erschütterungen auslösen und auf diese Weise unterirdische Geister anlocken. Einer Redensart auf den Philip­pinen zufolge führt Baden bei Vollmond zu Wahnsinn und bei Neumond unverzüglich zum Tod.

Gefährliches Seil

Vor der industriellen Revolution war es bei heimarbeitenden Familien durch­aus üblich, bis in die Nacht hinein bei Mondschein am Spinnrad zu arbeiten. Nach altem Volksglauben empfahl sich dies aber nicht. Dann würde das Garn nämlich verderben, oder die gesponnenen Fäden würden sich zu einem Seil fügen, das sich später um den Hals eines Verwandten schlingen könne. Überhaupt war Arbeit bei Mondschein verpönt. Man sollte ins­besondere auch nicht die Wäsche im Mondlicht trocknen. Das lasse den Stoff dünn werden oder giftigen Nacht­tau aufnehmen.

 

Als Jugendlicher habe er gelächelt, wenn seine Grosseltern die Mondregeln erwähnt hätten, heute sehe er es anders. Ein Beispiel: Einmal brachte ein Bauer, den er kennt, auf einer Parzelle den Mist regelkonform bei absteigendem, also «nid­sigendem» Mondlauf aus. Die andere Hälfte des Landstücks da­gegen düngte er «obsigend». Das Ergebnis fiel deutlich zugunsten der Mondregel aus: «Auf der ‹richtigen› Seite konnte der Mist viel besser in den Boden einwachsen.»

Feldversuche wider die Rationalität

Die traditionellen Mondregeln kä­men in der Landwirtschaft zum Teil immer noch zur Anwendung, sagt Ramseier. Gerade ältere Bauern richteten sich bei Aussaat und Ernte nicht nur nach dem Wetter, sondern oftmals immer noch nach dem Mondkalender. Die sogenannten Trigone hingegen spielten eigentlich fast nur in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft eine Rolle – obwohl gerade diese sternkundlichen Konstellationen erstaun­liche Ergebnisse zeitigten.

Ein Trigon liegt dann vor, wenn drei Sternbilder am Himmel ein gleichseitiges Dreieck bilden. Nach überlieferter Lehre gibt es das Wurzel-, Blatt-, Blüten- und Fruchttrigon. Regelmässig führt Hans Ramseier mit seinen – zuerst meistens skeptischen – Studierenden einen Ver­such mit Radieschen durch. Jene, die im Wurzeltrigon gesät werden, entwickeln sich im Vergleich zu den anderen Radieschen im Klimaschrank jeweils besser. Dasselbe liess sich auch bei Versuchen mit Karotten und Hafer feststellen, und ein wissenschaftlicher Feldversuch mit Erbsen verlief an der Hochschu­le ebenfalls erfolgreich.

Wo der Mond versagt

Eng verbunden mit der Landwirtschaft ist die Forstwirtschaft. Möbel und sogar Gebäude aus sogenanntem Mondholz haben Konjunktur. Im Zeitalter gesteigerten ökologischen Bewusstseins spricht man jenem Holz, das nach traditionellen Regeln im Einklang mit dem Mond geschlagen wird, gerne besondere Eigenschaften zu.

Mond und Mensch. Die Geschichte einer besonderen Beziehung II

Nächtliche Bedrohung

Lange Zeit wurde der Mond von den Menschen als bedrohlich wahrgenommen. Verfinsterte er sich, zerbrach damit auch eine Ordnung. Man hatte Angst, dass nach dem Himmelskörper auch die Menschenleben erlöschen würden. Die Massai in Ostafrika zum Beispiel schleuderten dann Sand in die Luft. Manche indigene Völker Amerikas schepperten mit Töpfen und Pfannen und schossen brennende Pfeile in Richtung Mond. All dies taten und tun sie zum Teil noch heute, um den verdunkelten Mond zu verjagen. Ähnlich gehen sie auch bei einer Sonnenfinsternis vor.

Obskurer Erlass

Im Bethlehem Hospital in London wurden Insassen noch bis 1808 bei bestimmten Mondphasen angekettet und geschlagen, um deren angeblich mondbedingte Gewalttätigkeit zu unterbinden. 1842 trat in London der «Lunacy Act» in Kraft. Laut diesem ist ein Mondsüchtiger jemand, «der nach Vollmond von einer Phase der Dummheit heimgesucht wird».

Aus: Bernd Brunner: Mond und Mensch. Die Geschichte einer besonderen Beziehung

 

Ob nun bei abnehmendem Mond­lauf geschlagen oder drei Tage vor dem elften Vollmond: Rissfester und belastbarer als «gewöhnliches» Holz ist es angeblich, das Mondholz, dazu auch witterungsbeständiger und nahezu immun gegen Schimmel und Insektenbefall.

Keine Unterschiede beim Mondholz

Neuere Studien sagen jedoch etwas anderes, darunter auch eine Un­tersuchung der Forstwissenschaftlerin Ute Seeling, Direktorin der zur Berner Fachhochschule gehörenden HAFL in Zollikofen. Sie und die Mitbeteiligten seien mit optimistischer Grundhaltung vorgegangen, hält die Professorin gegenüber «reformiert.» fest. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. Das Mondholz wurde mit konventionellem Holz von Eichen und Fichten verglichen, Unterschiede waren keine auszumachen.

Und doch sind Produkte, die aus Mondholz gefertigt werden, oftmals von besonderer Wertigkeit. Dies führt Seeling auf die Weiterverarbeitung zurück: «Wer mit Holz arbeitet, das nach überlieferten Regeln geerntet wurde, geht auch bei den nachfolgenden Schritten sorgfältig vor, bei der Lagerung, Trocknung, aber auch bei der Endverarbeitung zum Möbelstück oder im Holzbau.» Solche Produkte mit dem Label «Mondholz» zu vermarkten, findet Ute Seeling jedoch problematisch, weil die hohe Qualität eben nichts mit dem Mond zu tun habe. «Eine andere kreative Bezeichnung wäre angemessener.»

Was die Stecknadeln sagen

Wenig Gesichertes lässt sich auch über den Mond als «Geburtshelfer» sagen – selbst wenn ihm die Menschen an der Nordsee und anderswo durch­aus solche Kräfte zuschreiben. Gleich beim Eingang zum Geburtshaus Luna in Ostermundigen hängt ein Mondkalender an der Wand.

Die Hebamme Alexandra Plüss erklärt, wie die Mondphasen übers Jahr ver­teilt sind, und deutet auf die Stecknadeln: Für jedes Kind, das hier geboren wird, steckt ein Nädelchen. Die bunten Knöpfchen sind nicht gleichmässig verteilt, vielmehr bilden sie kleine Gruppen. «Weshalb es bei den Geburten zu solchen Ballungen kommt, weiss man nicht», sagt Plüss. Mal würden die Frauen bei Vollmond, mal bei Neumond gebären – oder irgendwann dazwischen. «Aber meist sind es mehrere im selben Zeit­raum.»

Für mich ist der Mond ein Symbol für Natürlich­keit. Das Leben bleibt letzten Endes unkontrollierbar.
Alexandra Plüss, Hebamme

Eine mögliche Erklärung sei das Wetter. Der Luftdruck könnte den menschlichen Organismus und damit den Geburtsbeginn beeinflussen. Wissenschaftlich belegt sei das aber nicht. «Auch die Wirkung des Mondes auf die Geburt ist mehr Volks­weisheit als Wissenschaft.» Es gebe zwar Untersuchungen, laut de­nen bei abnehmendem Mond mehr Kinder geboren würden als bei zunehmendem. Bestätigen kann dies die Hebamme aus der Erfahrung im Geburtshaus aber nicht.

Die dunkle Seite des Mondes

«Trotzdem sind wir auf besondere Weise mit dem Mond verbunden», sagt Alexandra Plüss. Der Geburtstermin errechne sich anhand des Menstruationszyklus, der 28 Tage und somit einen Lunarmonat beträgt. «Eine Schwangerschaft dauert neun Kalender- oder eben zehn Lunarmonate. Dieser Bezug wird bis heute hergestellt.»

Für die Hebamme ist der Mond ein Symbol für Natürlichkeit, und er stehe für die Tatsache, dass das Leben letzten Endes unkontrollierbar blei­­be. Sie illustriert es mit den Gezeiten: «Wir wissen, wann Ebbe und Flut stattfinden, aber wie stark und mit welchen Auswirkungen, ist nie genau vorhersehbar.» So sei es auch bei einer Geburt: Man wisse den ungefähren Zeitpunkt, der Verlauf lasse sich aber nicht voraussagen. Letzte Sicherheit gebe es trotz grosser medizinischer Fortschritte nach wie vor nicht. Oder, wie Landwirtschaftsdozent Hans Ramseier sagt: «Ich bin überzeugt, dass in der Natur Kräfte wirksam sind, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff immer noch entziehen.»