Die Zwänge machten ein normales Leben unmöglich

Plötzlich krank

Es sei pure Folter gewesen, fasst es Balz zusammen. Der junge Mann litt an Zwangsstörungen. Seine Kraft floss in Gedanken und Handlungen, denen er sich nicht entziehen konnte.

Die Tür zur Wohnung steht offen. «Hereinspaziert», ruft Balz (Name geändert) von weit her und kommt lässigen Schrittes durch den Flur. Er habe gerade noch etwas geputzt und aufgeräumt. Er lacht. Balz setzt sich im Wohnzimmer auf das Sofa, zieht die Baseballmütze kurz aus, um seine schulterlangen Haare aus dem Gesicht zu streichen, und nimmt einen Schluck Tee.

«Hier in diesem Haus aufzuwachsen, war ein grosses Glück», fängt der 23-Jährige an zu erzählen. Die Hausgemeinschaft mit den vielen Kindern und den unterschiedlichen Fami­liengeschichten habe einiges geboten. Und der Umgang untereinander sei nach wie vor sehr vertraut. «Bis heute sind mein Umfeld und meine Familie optimal, nur meine Psyche ist leider etwas mühsam.»

Strenge Handlungsrituale und Isolation

Balz war 14, als bei ihm Zwangsstörungen diagnostiziert wurden. Danach verbrachte er zehn Monate in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Tagesklinik. Seither ist er in Therapie und nimmt Psychopharmaka. «Die Krankheit hatte mich volle Kanne erwischt», erinnert er sich, und sie beschäftigt ihn bis heute. Die Tendenz, sich auf etwas, das ihn besonders interessiere, zu fixieren, sei immer schon Teil seines Charakters gewesen. Auch in der Schule wollte er alles sehr gut machen, aber damit habe er sich unter Druck gesetzt.

«Vieles was ich dachte und tat, war auch für mich absurd, aber ich konnte es nicht mehr kontrollieren.»
Balz

Als es dann um den Übertritt ins Gymnasium ging, verstärkten sich seine bisher harmlosen Zwänge, und auf einmal ging nichts mehr. «Ich war nur noch am Denken und starrte stundenlang reglos auf ein und dieselbe Stelle. Auch hatte ich strenge Handlungsrituale und war total in mir isoliert.» Isoliert sei er aber vorher nie gewesen, im Gegenteil. «Ich kannte das halbe Quartier und hatte viele Freunde in der Schule, im Fussballclub, beim Breakdance. Doch für einen normalen Alltag reichte die Kraft nicht mehr.»

Gedanken drängen sich auf

Zwangserkrankungen sind psychische Störungen, bei denen sich den Betroffenen unerwünschte Gedanken und zwanghafte Handlungen aufdrängen, etwa, ständig die Hände waschen oder Ordnung herstellen zu müssen. Dabei empfinden die Betroffenen ihr Verhalten selbst oft als sinnlos oder übertrieben, müssen aber dennoch weitermachen, um damit die unangenehmen Gefühle in den Griff zu bekommen. So beschreibt es auch Balz. «Vieles, was ich dachte und tat, war auch für mich absurd, aber ich konnte es nicht mehr kontrollieren.»

Die individuellen Ausprägungen der Zwänge sind sehr verschieden. Balz hatte etwa die Angstvorstellung, es könnte seinetwegen etwas kaputt gehen, zudem litt er unter blasphemischen Gedanken. «Weiter konnte es sein, dass ich plötzlich dachte, ich verachte die Jahreszeiten. Und schon befürchtete ich, dass ich dafür bestraft werden könnte.» Also habe er den Satz «neutralisieren» müssen. «Das machte ich, indem ich das, was ich im Moment des Gedankens tat, wiederholte. Oder den Ort, an dem ich es dachte, nochmals aufsuchte, um dann dort nicht daran zu denken.» Nur sei das ja bekanntermassen unmöglich: Wer versuche, an etwas nicht zu denken, denke bereits daran. «Es war pure Folter», fasst Balz zusammen. «Ich war mein schlimmster Feind und es erschöpfte mich total.»

Eine Art sozialer Tod

Der Aufenthalt in der Tagesklinik, die Therapie und die Medikamente halfen Balz, aus der Abwärtsspirale herauszukommen. Er konnte den Schonraum und die Zeit für sich nutzen. «Klar geht man in die Psychi nicht krank rein und verlässt sie dann gesund, aber nach ein paar Wochen war ich immerhin wieder etwas ruhiger.» Doch der Klinikaufenthalt war für ihn auch ein kompletter Bruch mit allem, was bisher sein Leben ausmachte, eine Art «sozialer Tod», wie er es nennt. «Ich bin durch alle Raster gefallen, hatte keinen Kontakt mit den Kollegen, keine Freizeitaktivitäten mehr und war auch stigmatisiert: Ich war auf einmal einer, der nicht ganz richtig tickt.» Für ihn als bisher «sozial Hyperaktiver» war dies ein schmerzlicher Einschnitt.

«Es braucht keine Krankheit, um etwas im Leben zu begreifen. Da gibt es noch viele andere Wege.»
Balz

Das verpasste Schuljahr holte er in einer Privatschule nach. Erst lief es gut, schulisch und sozial, doch dann ging es wieder los mit den Zwängen. «Das gleiche Problem wie beim ersten Mal, nur diesmal haben wir schneller reagiert, und ich war nach einem halben Jahr wieder im Rennen», meint Balz nüchtern. Das letzte Jahr am Gymnasium war für ihn dann eine Erlösung: Er war in einer tollen Klasse, lernte viel und gern und schaffte die Matura mit Bravour. «Endlich war ich nicht mehr der Ketzer, der sich selbst torpedierte. Vielmehr konnte ich mein Denken nutzen, um in die Welt des Wissens einzutauchen. Das war unglaublich befreiend.»

Weder krank noch gesund

Seither machte Balz diverse Jobs und studiert nun Geschichte und Sozialanthropologie an der Universität Bern. Ja, das Studium sei interessant, sehr sogar, aber der Schrecken nach der heftigen Krankheit sitze immer noch tief. «Ich lebe in einer Art ‹psychischen Nachkriegszeit› und versuche zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin.» Klar brauche das Zeit, aber er möchte auch nicht ewig von seiner Familie «durchgefüttert» werden, sondern ein selbstständiges Leben leben.

Fühlt er sich denn jetzt gesund oder noch krank? «Beides nicht», antwortet Balz. «Im Moment habe ich keine Symptome, aber wohlauf bin ich nicht.» Auch wenn er ab und zu mit Kollegen in den Ausgang gehe, fühle er sich ziemlich abgehängt vom Leben. «Die Diagnose Zwangsstörung beschreibt ja nicht mich als Person. Sie ist lediglich ein Hilfsmittel für die Krankenkasse. Trotzdem habe ich Angst, nicht mehr aus der Schublade rauszukommen.»Balz schlägt vor, auf dem Balkon eine Zigarette zu rauchen. Er zieht die Mütze etwas tiefer ins Gesicht. «Wer behauptet, Krankheiten hätten irgendeinen Sinn, der hat keine ­Ahnung.» Natürlich sei er durch seine Störungen gezwungen worden, über sich und das Leben nachzudenken. «Aber es braucht keine Krankheit, um etwas im Leben zu begreifen. Da gibt es noch viele andere Wege.» 

Balz, 23

Balz ist mit seinen Eltern und zwei ­älteren Geschwistern in einer Hausgemeinschaft aufgewachsen. Das Gymnasium besuchte er in einer Privatschule. Nach erfolgreich abgelegter Maturitätsprüfung arbeitete er als Hilfsgärtner und als Gardero­bier in ­einem Club. Heute studiert er Geschichte und Sozialanthropologie. Er lebt mit seiner Mutter in der ehemaligen Familienwohnung.