Pudeldame Beryll ist die positive Seite der Krankheit

Plötzlich krank

Von heute auf morgen erkrankte die ehemalige Fernsehjournalistin Karin Rüfli an unheilbarer Diabetes. Seitdem hat sich ihr Leben komplett verändert.

Die Tür der Studiokantine geht auf. Eine Frau mit blauer Brille im welligen Haar kommt herein. An der Leine führt sie einen Pudel. «Nicht ansprechen!», ruft Karin Rüfli in der Kantine des SRF-Radiostudios. Der vorsorgliche Hinweis gleich zur Begrüssung hat einen Grund. Die Pudeldame Beryll soll sich voll und ganz auf ihre Besitzerin konzentrieren und alle anderen Personen möglichst ausblenden.

Angefangen hat alles im Sommer 2017. Karin Rüfli war zu Besuch bei Freunden in Deutschland. Sie erinnert sich, dass sie ein riesiges Eis gegessen habe. «Das war dann auch das letzte.» Wahnsinnigen Durst habe sie danach gehabt und getrunken und getrunken, doch der Durst ging einfach nicht weg. «Ich verlor innerhalb kürzester Zeit neun Kilo und wurde immer schwächer», sagt sie. Kaum habe sie es geschafft, den Abfallbeutel die Strasse ohne Pause hochzutragen. Nach drei Wochen mit Schwäche, Gewichtsverlust und zuletzt pelzigem Gefühl auf der Zunge ging sie dann zum Arzt. «Oh oh, das ist Matthäi am Letzten», sagte dieser zur zierlichen Frau. Andere seien mit solchen Zuckerwerten bereits auf der Intensivstation: «Sie haben Diabetes.»

Diät allein genügt nicht

Der Arzt beruhigte sie, weil er von dem weniger schlimmen Diabetes Typ 2 ausging, der Menschen oft erst in späteren Jahren ereilt. «Das bekommen wir mit der Ernährung in den Griff.» Karin Rüfli musste von heute auf morgen auf Rohkost umstellen. Das bedeutete auch: keine Nudeln, Kartoffeln, Reis oder Brot mehr. Nichts, was sich zu Zucker verstoffwechseln lässt.

Beim nächsten Arzttermin kam dann die Erkenntnis: Nur mit Rohkost ist es nicht getan. Beim Facharzt kommt heraus, dass Karin Rüfli an Diabetes Typ 1 erkrankt ist. «Das bedeutet, ich muss bis zu meinem Lebensende Insulin spritzen.»

«Zuerst ist bei mir eine Welt zusammengebrochen. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jeden Tag zu spritzen.»
Karin Rüfli

«Im ersten Moment ist bei mir ­eine Welt zusammengebrochen. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich jeden Tag zu spritzen.» Gleich im Spital noch musste sie mit einer Attrappe aus Gummi üben. Seitdem sticht sie sich zusätzlich pro Tag mehrmals in den Finger, um ­ihren Zuckerwert zu ermitteln. An ­ihren Fingerkuppen sind die Spuren deutlich zu sehen. Sogar vor dem Autofahren muss sie den Wert kontrollieren. Denn im schlimmsten Fall kann sie ins Koma fallen.

Nicht mehr so flexibel

Früher, als Karin Rüfli noch beim Fernsehen war und für «Schweiz aktuell» als Live-Reporterin arbeitete, kam es schon einmal vor, dass zum Beispiel irgendwo eine Lawine abging und sie spontan eine Woche vor Ort blieb. «Das wäre jetzt unmöglich, ich bin nicht mehr so flexibel.» Sieht man die TV-Aufzeichnungen von früher, glaubt man eine andere Person vor sich zu haben. Temporeich redend, hochaktiv. Karin Rüfli scheint ruhiger geworden zu  sein. «Am Abend bin ich fix und foxy, wenn ich nach Hause komme.» Sie arbeitet seit einigen Jahren als Online-Redaktorin für Radio SRF 1; die Leitung der Abteilung hat sie abgegeben.

«Mein Leben war früher oft Stress, Stress, Stress. Das vertrage ich heute einfach nicht mehr so gut.»
Karin Rüfli

Woher die Erkrankung kommt, kann niemand sagen. Der Diabetes-Typ, den Karin Rüfli hat, ist ­eine Autoimmunerkrankung. Verbittert sei sie nicht, aber sehr traurig, dass sie nicht mehr ohne Weiteres in ein frisches Brot beissen könne. Das ginge nur, wenn sie sich direkt ­eine Portion Insulin spritzen würde. Neben dem täglichen Basis-Insulin auch noch das Essen mit Kurzzeitinsulin «abspritzen» wolle sie nicht. Das bedeutet Verzicht und Disziplin in der Ernährung.

Ein grosser Teil ihres anderen Lebens mit der Krankheit ist seit ­einem Jahr die Pudeldame Beryll. Sie geht und steht, wo ihr Frauchen ist. Mit ihr fährt Karin Rüfli alle zwei Wochen nach Voralberg. Dort wird der Pudel zum Diabetiker-Warnhund ausgebildet und soll sich nur auf seine Besitzerin konzentrieren. Wenn Beryll nach zwei Jahren Ausbildung soweit ist, kann sie Karin Rüfli warnen, wenn ihre Werte unter die kritische Grenze sinken. Der Hund riecht die Unterzuckerung und stupst die Besitzerin dann an. Die teure Aubildung des Hundes zahlt Karin Rüfli selbst.

Positives Denken hilft ihr

Der Eindruck einer grossen – nicht nur räumlichen – Nähe zwischen Halterin und Hund entsteht. Die positive Seite der Krankheit nennt Karin Rüfli ihre Beryll. Das Tier gebe ihr Sicherheit. Seit sie Beryll hat, geht Karin Rüfli mehr in die Natur, geniesst jedes Wetter. «Eigentlich ist es, wie wenn ich ein Kind hätte», sagt sie. Denn auch der Hund muss erzogen werden und hat Entwicklungsphasen. «Bei der zeitintensiven Ausbildung von Beryll muss meine Partnerschaft manchmal zurückstecken», sagt Rüfli.

Doch ihr nächstes Umfeld unterstütze sie nach Kräften. Wenn sie mal traurig ist, sagt sie sich, «es gibt noch viel, viel Schlimmeres». Sie versuche, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Das Positive zu betrachten, gelinge ihr recht gut. Seit der Erkrankung habe sie auch Einsichten gewonnen: «Mein Leben vorher war oft Stress, Stress, Stress. Das vertrage ich einfach nicht mehr.» Aufregungen im Alltag ­sehe sie jetzt mit anderen Augen: «Es stirbt niemand, wenn dieser oder jener Beitrag nicht kommt.» ­Eigentlich sei der Körper wunderbar, wenn man denn auf ihn höre. Ihre Erkrankung sei sicher der Anlass gewesen, ihr Leben zu ändern.

Gerüstet für den Notfall

Karin Rüfli hat das Notfallset, bestehend aus ­einem Glukagon-Spritzenset, immer dabei. Damit können Laien erste Hilfe leisten, wenn ein Diabetiker wegen einer schweren Unterzuckerung bewusstlos geworden ist. Zum Prüfungspensum von Beryll gehört, dass sie das Set holen kann, falls ihre Besitzerin dazu nicht mehr in der Lage ist.

Nach einer Stunde in der Kantine macht sich der Hund bemerkbar. Er will raus. Zeit für Karin Rüfli, sich mental wieder ganz ins Hier und Jetzt zu verorten und mit der Pudeldame vor die Tür zu gehen. Rüflis Kolleginnen und Kollegen, denen sie beim Hinausausgehen begegnet, wissen inzwischen, warum Beryll nicht auf fröhliche Begrüssungsszenarien von Fremden reagieren soll.

Karin Rüfli, 55

Zur Welt kam sie in Solothurn, auf­gewachsen ist sie in Lengnau BE. Nach der Schule besuchte Karin Rüfli die Ringier-Journalistenschule, moderierte dann das Tagesfernsehen «TAF» im Schweizer Fernsehen und später die Sendung «Schweiz aktuell». Danach wechselte sie zur Konsumredaktion «Espresso» von Radio SRF. Heute ist sie Social-Media-Manager und Online-Redaktorin von Radio SRF 1.