Was passiert mit einem Menschen, der eine Diagnose erhält, die sein Leben verändert?
Thomas Wild: Die meisten stehen unter Schock. Viele haben eine Phase der Ungewissheit hinter sich, in der sie hofften, es sei etwas Harmloses. Die Diagnose zertrümmert die Hoffnung, und es tut sich ein Abgrund auf. Was mich immer wieder beeindruckt: Der Mensch versucht schnell Ordnung ins Chaos zu bringen, indem er Fragen stellt, zum Beispiel nach der genauen Diagnose und nach Massnahmen.
Die Ärzte sind in diesem Moment die wichtigsten Ansprechpartner?
Ja. Die Mitteilung von «bad news» ist sehr anspruchsvoll. Es braucht Klarheit und Fingerspitzengefühl. Betroffene erwarten in diesen Momenten zu Recht fachliche und persönliche Kompetenzen.
Sie sind bei der Mitteilung von Diagnosen anwesend?
Da ich hauptsächlich auf der Intensivstation arbeite, kommt das oft vor. Der Patient liegt im Koma, ein Befund wird gestellt, und ich werde für das Gespräch mit den Angehörigen beigezogen. Wenn sich die Ärztin verabschiedet hat, bleibe ich für die Angehörigen da. Ansonsten kontaktiert mich das Pflegepersonal, wenn es registriert, dass jemand Begleitung braucht.
Was machen Sie dann?
Nach dem ersten Schock geht es darum, die Situation zu realisieren und auszuhalten. Menschen wollen in ihren Gefühlen und Gedanken verstanden werden. Ich bin also da, die Situation mitauszuhalten und zuzuhören. Kürzlich wurde ich zu einem Mann gerufen, der drei Tage zuvor die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erhalten hatte und sofort operiert worden war. Zurück auf der Station, realisierte er seine Situation: Als Erstes sagte er mir, ihm fehlten im Mehrbettenzimmer die Ruhe und die Sicht auf den Himmel. Im Verlauf des Gesprächs erfuhr ich dann von seiner schwierigen Scheidung, von seiner Einsamkeit und seinen Ängsten.
Was können Sie jemandem in so einer Situation geben?
Ich kann versuchen, sein Wesen und sein Leben durch mein Interesse zu würdigen. Jedes Leben verdient Respekt. In einer gesundheitlichen Krise kämpft der Mensch mit einem massiven Vertrauensverlust – ins Leben, in den Körper, in alles. Meine Aufgabe ist es, erste Schritte zu ermöglichen, sich jemandem anzuvertrauen.
Reagieren Menschen mit einer schweren Diagnose ähnlich?
Es gibt erstaunliche Reaktionen, zum Beispiel bei Kindern. Um sich selbst machen sie sich oft weniger Sorgen als um ihre Eltern. Bekommt ein Erwachsener eine solche Diagnose, sieht er häufig alle Projekte davonschwimmen. Ein Kind bleibt in der Gegenwart. Aber auch Erwachsene können progressiv mit der Krankheit umgehen. Einer sagte mir, er nehme die Farben und das Vogelgezwitscher viel intensiver wahr. Manche entdecken eine andere Qualität des Lebens – als würden sie sich und die Welt aufs Existenzielle reduzieren.
Haben sie bestimmte Ressourcen?
Es hat mit Bewältigungsmustern zu tun, die wir im Umgang mit Verlusten eingeübt haben. Phasen der Verzweiflung erlebt fast jeder. Manche reagieren mit Panik, andere werden wütend oder fühlen sich gedemütigt. Auch Verdrängung oder Durchhalteparolen begegnen mir, vor allem bei Männern.
Wie sprechen Sie mit jemandem, der seine Situation verdrängt?
Ich nehme ihm nicht die Hoffnung. Aber ich erachte es als sinnvoll, auch die Hoffnungslosigkeit anzusprechen. Ich ermutige ihn, die Türe in diese Räume aufzutun – und dann auch wieder zu schliessen. Die dunklen Momente kommen irgendwann garantiert. Hat sich jemand zuvor schon damit befasst, kann das helfen.
Ist der Glaube für religiöse Menschen in dieser Krise eine Stütze?
Ein gläubiger Mensch nimmt den Schicksalsschlag nicht unbedingt lockerer an. Bei jedem zerbricht etwas von der bisherigen Identität, manchmal auch jene des Glaubens. Manche Gläubige spalten ihre Ängste ab: «Ich bin gläubig und darf mich nun nicht fallen lassen.» Oder sie denken, diese Krankheit habe nichts mit Gott zu tun, sondern mit seinem Gegenspieler. Manche, auch nicht religiöse Menschen, empfinden die Krankheit wie eine Strafe: «Warum geschieht mir das, ich war doch immer tüchtig und ehrlich.»
Wo knüpfen Sie da als Theologe an?
In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es viele Geschichten zum Umgang mit Leid. Als Gesunder darf ich einem Kranken nicht sagen, wie er seine Krankheit zu interpretieren hat. Ich kann aber Geschichten anbieten, in denen er sich wiedererkennt: die Passion, die Resilienzgeschichten des jüdischen Volkes, das Schicksal von Hiob.
Kann eine solche Krise umgekehrt Spiritualität aufleben lassen?
Ja, einige erinnern sich an etwas, das sie einst hatten. Leute aus frommen Elternhäusern etwa, die mit dem Glauben abgeschlossen hatten, spüren nicht selten eine Sehnsucht nach der spirituellen Geborgenheit der Kindheit. Sie fragen mich dann, ob ich für sie beten kann. Und es gibt Menschen, die in der Krise Spiritualität erst entdecken.
Ist es Ihre Pflicht, eine Art «göttliche Geborgenheit» zu vermitteln?
Die Sehnsucht nach Transzendenz gehört zum Menschsein. Darum spreche ich die spirituelle Identität und diesbezüglichen Hoffnungen oder Ängste an. Ich greife nicht schnell zu Ritualen, frage aber am Ende eines Gesprächs oft, ob es noch einen Wunsch gebe. Manchmal schlage ich einen Segen vor oder verweise auf die Kraft der Wiederholung eines einfachen Gebets. Melodie und Rhythmus tun geschwächten Menschen gut. Das ist ähnlich, wie wenn der muslimische Kollege den Koran rezitiert.
Wissen Sie immer das Richtige zu sagen?
Wenn ein Mensch schlagartig und ungefragt von der Welt der Gesunden in die Welt der Kranken versetzt wird, können Worte rasch zynisch wirken. Die Sprache ist zwar ein heilendes Instrument, aber sie kann auch verletzen. Ich bin zurückhaltend mit Hoffnungsszenarien. Einem Schwerkranken darf man nicht sagen: «Das kommt wieder gut, das Leben geht weiter.» Das Leben geht eben gerade nicht mehr so weiter. Wahrer Trost kann sein, die Trostlosigkeit auszuhalten.
Hat Ihre Arbeit Ihre eigene Spiritualität verändert?
Ich bin in mancher Hinsicht liberaler geworden. Gleichzeitig hat sich meine theologische Identität vertieft. Glaube und Spiritualität sind weder Voraussetzungen noch Garantien für Heilungsprozesse, aber wichtige Faktoren auf dem Weg der Genesung.