Schwerpunkt 24. Januar 2024, von Rita Gianelli

Gemeinsam die Demokratie fördern

Brücken in den Balkan

Auch 25 Jahre nach dem Krieg erschweren in Balkanstaaten Nationalismus und Machtkämpfe die Festigung demokratischer Strukturen. Ein Jugendprojekt setzt auf Selbstermächtigung.

Helena Watrin sitzt vor einem Chai Latte mit Hafermilch im Berner Generationenhaus mitten in der Stadt. Unter dem Dach versammeln sich Geflüchtete, Touristen, Einheimische, Kulturschaffende. Hier sass Helena Watrin oft beim Lernen für die Matur. «Ich mag diesen Ort, er hat etwas Internationales», sagt sie.

International ist auch ihr Familienhintergrund: Als Tochter einer Irin und eines Franzosen wuchs sie in Bern dreisprachig auf. Ihr soziales Netzwerk reicht über die Landesgrenzen hinaus. Nachdem eine österreichische Freundin auf Instagram das Projekt «We make Democracy!» erwähnt hatte, meldete sich Watrin gleich an.

Kritisch denken lernen

Helena Watrin dachte damals, dass dieser Einsatz eine gute Vorbereitung sein könnte für ihr Studium in Politikwissenschaft und Soziologie, und unternahm zuerst einmal eine Reise. Mit dem Velo und im Zug entdeckte sie fast ganz Europa. In Berlin erfüllte Watrin sich einen Kindheitstraum und liess sich den Kopf rasieren. «Das war so», sie überlegt kurz, «empowering.» Watrin lacht.

«To empower», zu Deutsch befähigen, ermächtigen oder bestärken, ist auch das Ziel der «We make Democracy!»-Academy. Dieses internationale Trainingsprogramm ist eine Kooperation der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) mit Jugendorganisationen aus dem Westbalkan.

Nächster Halt Bosnien

Die Trainingsreisen für Jugendarbeiterinnen und -arbeiter sowie inter­essierte Jugendliche aus dem Westbalkan und der Schweiz werden von der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV) organisiert. Während des zweijährigen Lehrgangs absolvieren die Jugend­lichen neun Module zu Demokratie und Gerechtigkeit. Das nächste Modul findet im März in Bosnien statt.

Mitarbeitende von Jugendverbänden und interessierte Jugendliche setzen sich in mehrtägigen Seminaren in den verschiedenen Staaten des Balkans mit Themen wie Demokratie, Machtstruktur und Medienfreiheit auseinander. So sollen sie zu «aktiven Mitgliedern der Gesellschaft» werden, sagt Projektleiterin Melanie Fröhlich. «Die Teilnehmenden lernen das politische System eines Landes kennen, üben kritisches Denken und Analysieren.» Ziel sei auch, dass die Jugendlichen durch die erworbenen didaktischen Fähigkeiten eigene Workshops organisieren können und auf diesem Weg zu Multiplikatoren werden.

Die Demokratie im Westbalkan sei noch jung, sagt Mattia Poretti. Er ist stellvertretender Leiter der Sektion Osteuropa in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). «Der kulturelle Austausch untereinander und die Inklusion aller im Alltag werden noch wenig gefördert.» Die Gesellschaft und die Funktionsweise der Institutionen seien eher konservativ. «Es gibt noch wenig Raum für die Zivilgesellschaft, insbesondere für die Jugend.»

Wichtige Initiativen gegen nationalistische Spaltungen

Ein Fokus der Deza liegt deshalb in der Förderung von Perspektiven für junge Leute. Dazu zählt die Einführung einer dualen Ausbildung und somit der Lehre nach Schweizer Vorbild. Und auch Projekte zur Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, was das Kernelement von «We make Democracy!» ist. Die Deza unterstützte mit dieser Motivation einen der Lehrgänge mit 200'000 Franken.

Solche Initiativen seien wichtig, weil sie den noch vorherrschenden nationalistischen Spaltungen entgegenwirkten. Von der Nachhaltigkeit des Projekts ist er überzeugt. Die Treffen seien Initialzündungen «für neue, von Jugendlichen selbst erwirkten Initiativen». In Bosnien wurde etwa der «Youth Advisory Board» gegründet, in dem Studierende und Ehemalige aus dem ganzen Land zusammenkommen. Die Gruppe fördert das staatsbürgerliche Engagement, bildet junge Leute durch ein Mentorensystem aus.

Der Westbalkan ist für die Schweiz eine wichtige Region wegen seiner Nähe, der Bedeutung der Diaspora und des Mehrwerts unseres Engagements schon seit Anfang der 1990er-Jahre.
Mattia Poretti, stellvertretender Leiter Sektion Osteuropa in der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza)

«We make Democracy» ist neu und alt zugleich. Bereits kurz nach dem Kalten Krieg organisierte der SAJV «Ostprojekte», damals noch in den Republiken der Sowjetunion. 2018 wurde die Idee wiederbelebt mit Fokus auf den Westbalkan, weil es in der Schweiz eine grosse Diaspora aus Balkanstaaten gibt.

Der SAJV reiht sich in eine lange Tradition des schweizerischen Engagements im ehemaligen Jugoslawien ein. «Der Westbalkan ist für die Schweiz eine wichtige Region wegen seiner Nähe, der Bedeutung der Diaspora und des Mehrwerts unseres Engagements schon seit Anfang der 1990er-Jahre», sagt Poretti.

Um drei Uhr morgens spazieren gehen

Die Schweiz unterstützte 2022  sechs Westbalkanländer mit insgesamt 98,3 Millionen Franken. Die folgenden Ziele setzt sich die Deza für ihr Engagement: wirtschaftliche Entwicklung, Bewältigung des Klimawandels, menschliche Entwicklung vor allem in der Gesundheitsversorgung, Förderung des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit, Gleichstellung der Geschlechter.

Helena Watrin erinnert sich an ihr erstes Modul in Slowenien zu Demokratie und Feminismus, das kurz vor Weihnachten stattfand. Auf der Basis von Brettspielen diskutierten die Jugendlichen, was sie unter Feminismus verstehen. Eine Frage war: «Was würdet ihr tun in einer Welt, in der es für 24 Stunden keine Männer gäbe?» Die Antwort: um drei Uhr morgens spazieren.

Wie krass die Mädchen von der Unterteilung der Geschlechter betroffen sind, hat mich erschüttert.
Helena Watrin, Teilnehmerin «We make Democracy!»

«Wie krass die Mädchen von der Unterteilung der Geschlechter betroffen sind, hat mich erschüttert», sagt Watrin. Eine Teilnehmerin erzählte, dass sie im Haushalt helfen und zudem die Kosten für ihre Ausbildung selbst tragen müsse, während dem Bruder, der nie zu helfen brauche, alles bezahlt werde.

Die Teilnehmenden stellten aber auch fest, dass die Schweiz in Sachen Frauenpartizipation kein Vorzeigeland gewesen ist. Die meisten Balkanländer liessen Frauen Jahrzehnte vor der Eidgenossenschaft  wählen und abstimmen.

Doch wie privilegiert sie sei, habe sich auch in den Verdienstmöglichkeiten gezeigt, sagt Watrin. «Als Nachhilfelehrerin oder Babysitterin verdiene ich mehr als meine Kolleginnen in ihren erlernten Berufen.» Das Modul habe ihr, die sich als eher schüchtern bezeichnet, geholfen, selbstsicherer zu werden.

Aktiv werden

«Verständnis füreinander und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zu entwickeln, geht nur über den persönlichen Austausch», sagt Projektleiterin Fröhlich. Dafür gelte es, sich aus der Komfortzone zu wagen, ins Handeln zu kommen «und so ansteckend für andere zu wirken».

Watrin beginnt im Herbst ihr Studium in Lausanne. «We make Democracy!» hat in ihr den Wunsch geweckt, bei der UNO oder Amnesty International zu arbeiten. «So könnte ich aktiv zu mehr Gerechtigkeit beitragen.»