Schwerpunkt 10. Februar 2022, von Christian Kaiser

«Wir können nicht noch einmal 50 Jahre vergeuden»

Klimawandel

Vor 50 Jahren warnte der Bericht «Die Grenzen des Wachstums» vor den Folgen unseres Wirtschaftens für den Planeten. Eine Lagebeurteilung mit der aktuellen Co-Präsidentin.

Sie haben in Ihrem Büro diese berühmte rote Mondrakete aus dem Comic von Tim und Struppi «Reiseziel Mond» stehen ...

Ja, sie soll daran erinnern, dass unsere Mission sein muss, auf der Erde zu bleiben – und sie zu retten, statt unser Glück irgendwo im All zu suchen.

Sie wohnen in Brüssel und ein viel grösseres Exemplar der Mond-Rakete des Zeichners Hergé steht ja auf dem Brüsseler Flughafen. 2008 als der Club of Rome seinen Sitz von Hamburg nach Winterthur verlegte, war eine der Begründungen die Nähe zum Flughafen. Sollten wir dem Planeten zuliebe nicht alle weniger fliegen?

Wir überdenken unser Reiseverhalten gerade total. Unsere Mitarbeitenden sind global verteilt, hauptsächlich in Europa und Südafrika. Bei den Klimaverhandlungen konnte man in der Vergangenheit ja nur auf Politiker und Wirtschaftsführer Einfluss nehmen, wenn man vor Ort war. Die nächste UN-Klimakonferenz 2027 wird in Ägypten sein, wie soll ich da hinkommen ohne Flugzeug? Dank Covid und verändertem Kommunikationsverhalten können aber internationale Diskussionen endlich auch online geführt werden.

Genau vor 50 Jahren hat der Club of Rome seinen Bericht «die Grenzen des Wachstums» veröffentlicht. Grund zum Feiern?

Das Jubiläum hat natürlich einen bitteren Beigeschmack. Auf der einen Seite war der Report für seine Zeit unglaublich visionär – wurde jedoch von vielen als Verrücktheit und Weltuntergangsszenario kritisiert. Auf der anderen Seite haben wir im letzten Jahr alle damaligen Szenarien noch einmal durchrechnen lassen und das Resultat war: Die getroffenen warnenden Vorhersagen trafen zu und sind heute noch aktuell.

Wie beurteilen Sie die Bedeutung des Berichts nach einem halben Jahrhundert?

Er ist heute noch relevanter als damals schon. Denn er zeigte ganz klar auf, dass wir, auch wachsende Krisen haben werden, wenn wir dem Wachstum keine Grenzen setzen. Nicht nur eine einzelne schwere Krise, sondern eine ganze Serie davon. Und die Autoren haben vorausgesagt, dass sie in 2020 beginnen werden. Und schauen Sie, wo wir jetzt stehen.

Die verantwortlichen Wissenschaftler berechneten u.a., dass die oberste Belastungsgrenze des Planeten bei 8 Milliarden Menschen liege – und dass es von da an nur bergab gehen könne ...

... exakt, und da sind wir jetzt. Wir können die Wichtigkeit dieses Berichts nicht hoch genug einschätzen.

Weshalb?

Wir wussten schon vor 50 Jahren, was geschehen wird, mögliche Lösungen sind seit einem halben Jahrhundert bekannt. Der Club of Rome hat seither zahlreiche Publikationen herausgegeben, viele brillante Persönlichkeiten haben sich für Lösungen engagiert. Aber niemand hat zugehört und so gehandelt, wie es nötig gewesen wäre. Also müssen wir zum 50. Jubiläum die Menschen aufwecken und klar machen: Wir haben nicht noch einmal 50 Jahre zu vergeuden.

Wohlfahrtseinbussen wegen Wachstum?

Politiker und neoliberale Ökonomen haben uns eine Vision verkauft, dass kontinuierliches Wachstum für den Grossteil der Bevölkerung eine höhere Lebensqualität schafft. Das stimmt schlicht nicht.
Sandrine Dixson, Co-Präsidentin der NGO «Club of Rome» mit Sitz in Winterthur

Was muss in Bezug auf die Klimakrise jetzt passieren?

Beim Club of Rome konzentrieren wir uns nicht nur auf den Klimawandel. Wir glauben, dass die Klimaerwärmung das Symptom eines falschen Verhaltens ist: die Belastungs-Grenzen des Planeten überschritten zu haben, weil wir nur an uns selbst und unseren Vorteil denken – statt die Welt in ihrer ganzen Artenvielfalt zu respektieren. Für uns liegt deswegen ein planetärer Notstand vor.

Worin zeigt er sich?

Unser Planetary Emergency Plan PEP fokussiert auf die Wechselwirkungen zwischen Klimawandel, Verlust der Artenvielfalt und weltweiten Gesundheitskrisen. Es sind diese drei Kipppunkte, welche gemeinsam den planetären Notstand verursachen. Wenn wir uns einseitig nur auf das Klima konzentrieren, werden wir aus der globalen Krise nicht herauskommen, weil die beiden anderen Aspekte des Notstands weiter bestehen. Was wir jetzt brauchen ist eine ganzheitlich denkende, vernetzte Politik, die in der Lage ist, alle drei Probleme gleichzeitig anzugehen. Und zu stoppen!

Aber wie? Was schlagen Sie vor?

Ein Ansatz ist, sich auf die Sektoren zu konzentrieren, welche den Löwenanteil der Probleme verursachen: Energie, Materialverbrauch und Lebensmittelproduktion. Wenn wir in diesen Bereichen vorangehen, können wir deren massive Effekte auf Klima und Biodiversität reduzieren. Beispielsweise müssen wir bis 2025 ganz aus fossilen Energien aussteigen und unser Investment in Erneuerbare Energien jährlich verdreifachen. In unserem PEP präsentieren wir eine ganze Reihe von konkreten Massnahmen.

Wo sollen wir anfangen? Wo besteht der grösste Hebeleffekt?

Ganz klar bei der Energieproduktion. Sie ist für 72 Prozent aller Emissionen verantwortlich. Und es ist wichtig zu sagen, dass Gas und Atomkraft keine grünen Technologien sind. Und natürlich müssen wir den Hebel auch bei der Energieeffizienz und beim Verbrauch ansetzen; die Nachfrage muss sinken. Gas und Atomkraft können uns höchstens in der Transformationsphase unterstützen, stellen aber selber keine Lösung dar.

Konservative liberale Ökonomen werden sagen: Das sind alles wachstumsfeindliche Massnahmen. Was sagen Sie auf das Standardargument von Politikern, Wirtschaftsführern und Aktionären: Wir brauchen Wachstum für Wohlstand, Fortschritt und Entwicklung?

Der Punkt ist: Es gibt einen grossen Unterschied zwischen Wachstum und Wohlfahrt. Politiker und neoliberale Ökonomen haben uns eine Vision verkauft, dass kontinuierliches Wachstum für den Grossteil der Bevölkerung Wohlstand schafft. Das stimmt schlicht nicht. In einigen Ländern ist zwar die Armut reduziert worden, in westlichen Ländern hat sich die Ungleichheit aber massiv vergrössert, und das Armutsproblem ist riesig.

Eine ausgewiesene Expertin in Sachen Nachhaltigkeit

Sandrine Dixson-Declève präsidiert seit 2018 zusammen mit Mamphela Ramphele die auf Fragen nachhhaltiger Entwicklung spezialisierte internationale NGO «Club of Rome» mit Sitz in Winterthur. Der Club of Rome wurde 1968 von Experten aus 30 Ländern gegründet und setzt sich seither für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit ein. Eine der ersten Aufgaben des Präsidentinnen-Duos war die Ausarbeitung eines Klimanotfall-Plans, der nun als «Planetary Emergency Plan» vorliegt.

Sandrine Dixson hat einen Abschluss in Internationalen Beziehungen und Umweltwissenschafen und beriet als Expertin für Energiepolitik die Europäische Union und multinationale Konzerne in Nachhaltigkeitsfragen. U.a. war sie Direktorin der «Prince of Wales Corporate Leaders Group», in der sich namhafte multinationale Konzerne zur Nachhaltigkeit verpflichteten. Sie ist Mitinitiantin und Leiterin der Forschungsplattform Earth4all, in der sich Forschende, Poilitikerinnen und Umwelt-Organisationen gemeinsam dafür engagieren, den Kapitalismus neu zu durchdenken und das Bruttosozialprodukt als Wohlstandsmass abzulösen.

Woran sehen Sie diese wachsende Armut im Westen?

Ich bin im Silicon Valley aufgewachsen und war gerade dort: Sie werden es nicht glauben, wie viele Obdachlose es da inzwischen gibt – neben der höchsten Dichte an Milliardären. Selbst die gutverdienende Generation der Millenials kann sich bei weitem nicht so viel leisten wie noch die Generation der Eltern. In den Ländern mit den höchsten Wachstumsraten zeigen sich auch die sozialen Grenzen des Wachstums, zum Beispiel in den Burnout- oder Suizidraten. Und schauen Sie sich den Zustand des Planeten an. Er ist wie die Menschen krank und wird kränker und kränker. Darum muss ich all jenen entgegnen, die behaupten, dass BSP-Wachstum die Menschen besserstelle: Das ist nicht wahr!

Kipppunkte, Kaufkraftverlust, Wachstumsbeschränkung, das klingt dramatisch: Werden wir uns also mit massiven Einbussen an Lebensqualität abfinden müssen?

Nein. Wir müssen neu definieren, was Lebensqualität heisst. Die hat doch nichts damit zu tun, was wir kaufen, wie uns immer wieder vorgegaukelt wird. Ich denke, das Gute an der Pandemie war, dass sie die Frage aufgeworfen hat, was uns wirklich wichtig ist im Leben. Und wenn wir für uns Antworten gefunden haben, dann ist es an der Zeit, die Politiker in diese Richtung zu bewegen: bessere Gesundheitsversorgung, andere Formen der Mobilität und erfüllendere Jobs zum Beispiel. Und es wird auch besser sein für den Planeten, wenn unser Wohlbefinden weniger davon abhängig ist, was wir konsumieren.

Die Konsumgesellschaft ist am Ende?

Ich denke, wir haben die Spitze hinter uns, ja. Die nächste Generation ist sich dessen sehr wohl bewusst. Die glauben die Mär nicht mehr, dass Wachstum einen glücklich macht. Aber der springende Punkt ist doch: Es gibt so viele alternative Zukünfte, die uns ein besseres Leben ermöglichen! Uns ist zulange eingebläut worden, nachhaltige Entwicklung und ein Leben mit kleinerem Fussabdruck seien gleichzusetzen mit schlechterer Lebensqualität. Das ist total falsch, denn die Mehrheit der Bevölkerung auf dieser Erde wäre dadurch besser dran! Jetzt und in Zukunft sowieso.

Wenn Wachstum keine Lösung ist sondern die Ursache: Was brauchen wir stattdessen?

Einen fundamentalen Wechsel von der Wachstumsökonomie (mit dem BSP als Messgrösse) zu einer Wohlfahrtsökonomie (mit der Bevölkerungs-Zufriedenheit als Mass, welche neben ökonomischen auch ökologische und soziale Indikatoren für den Wohlstand berücksichtigt). Finnland, Island, Schottland, Neuseeland und Wales sind schon daran, diesen Umbau zu bewerkstelligen. Vier dieser Länder werden übrigens von Frauen regiert.

Wird die kommende Generation die Lösungen bringen?

Nein, sie kann es nicht allein richten. Es ist gut, wenn sie auf die Strasse geht, um die Regierungen und die Menschen aufzuwecken. Wir brauchen eine neue Politik. Aber wir brauchen auch die Ingenieure, die helfen ganze Industrien umzubauen, Wissenschaftler und Ökonomen, welche die echten Lösungen aufzeigen. Die Jugend muss Teil dieser Diskussionen sein. Aber für komplexe Probleme, mit denen wir jahrzehntelang gerungen haben, jetzt von 18- oder gar 30-Jährigen Lösungen zu verlangen, die wir selber nicht gefunden haben, ist einfach dumm und unfair. Da machen wir es uns zu einfach.

Haben wir als Elterngeneration also eine besondere Verantwortung, die Probleme zu lösen, die wir geschaffen haben?

Wir haben alle die gleiche moralische Verantwortung – unsere Eltern und deren Eltern usw. hatten sie auch schon. Die Plünderung der natürlichen Ressourcen und deren Folgen gehen doch zurück bis hin zur 1. industriellen Revolution, ja bis zur Phase des Kolonialismus. Diese Erbschaft ist schon lange nicht besonders positiv.

Zuletzt ein Ausblick: Wo wird die Menschheit in 50 Jahren stehen?

Wenn die Menschheit jetzt wirklich zuhört und umdenkt, wird sie sich hoffentlich retten können ...

... worauf muss sie hören?

Auf die ursprünglichen Aussagen des Grenzen des Wachstums-Reports, auf die Erkenntnisse der Wohlfahrtsökonomie und die entsprechenden Zukunftsalternativen sowie unsere aktuellen Vorhersagen, auf was wir uns jetzt konzentrieren müssen, in welche Schlüsselbereiche wir jetzt investieren müssen.

Und wenn nicht?

Wenn sie weiter nur an ihren eigenen kurzfristigen Nutzen denkt und weiter die Ressourcen der Erde plündert, werden grosse soziale und ökologische Krisen auf uns zukommen: Klimakatastrophen, Migrationsströme, Kriege. Das würde unser aller Leben extrem erschweren ...

... klingt nicht gerade nach einem neuen Narrativ der Hoffnung, das Sie auch schon eingefordert und versprochen haben ...

... wenn wir morgen anfangen, in der Überzeugung zu handeln, dass wir eine bessere Zukunft erschaffen können, werden wir dieses Schiff, das auf einen Crash mit einem Eisberg zusteuert, gerade noch wenden können. Die Menschen werden weniger krank sein, weniger Klimaangst haben und Teil von etwas Neuem sein, dass viel grösser ist als sie selber. Sie werden persönlich und auch als Gemeinschaft erfüllter sein. Das ist die Hoffnung!