Schwerpunkt 10. Februar 2022, von Christian Kaiser

«Das Gebot der Stunde ist das alte Liebesgebot»

Klimawandel

Theologieprofessor Ralph Kunz fragt sich gemeinsam mit seinen Studenten, was «Christsein in der Klimakrise» bedeutet. Im Interview erläutert er, welche Antworten er gefunden hat.

Ralph Kunz, Sie haben gemeinsam mit Studenten die Tagung «Christsein in der Klimakrise» initiert. In Ihrem Tagungs-Beitrag bezogen Sie sich auch auf den ursprünglichen Bericht des Club of Rome (CoR) «Die Grenzen des Wachstums» von 1972. Wie schätzen Sie die Relevanz dieser Warnung heute ein?

Der CoR-Bericht war ein Weckruf, der alarmiert und den Boden für die Nachhaltigkeitsdiskussion geschaffen hat. Er war insofern von hoher Relevanz. Seine wissenschaftliche Bedeutung, die Präzision der Prognosen, sind allerdings - aus heutiger Sicht - umstritten. Man könnte sagen in gewisser Hinsicht waren gewisse Aussagen zu pessimistisch, in manchen Bereichen waren sie zu optimistisch.

An der Tagung in Winterthur haben Sie vor den Studierenden angesichts der Klimakatastrophen die Frage aufgeworfen, ob wir zulange damit zugewartet haben, unser Wirtschafts- und Konsumverhalten zu ändern. Was ist Ihre Antwort? Ist es soweit: Haben wir zulange gewartet?

Die Frage, ob es schon zu spät ist, lässt sich nicht mit Ja oder Nein beantworten. Wir geraten dann schnell ins komplexe Feld der Zukunftswissenschaft, die mit Szenarien arbeitet. Eines ist klar: Die Folgen des Klimawandels, der Bevölkerungsdruck (aber auch die Überalterung) und die Flüchtlingskrisen, die durch Naturkatastrophen, Krieg um Wasser und andere Ressourcen verstärkt werden, sind jetzt schon Realität.

Was müsste Ihrer Ansicht nach geschehen, damit wir nicht weiter Zeit versäumen?

Eine Kombination von Massnahmen: Ökonomische Anreize für nachhaltige Verhaltensänderungen, technologische Innovation, eine stärker auf internationale Solidarität ausgerichtete nationale, internationale und globale Politik und – weitaus am schwierigsten ­– die Einübung eines neuen Lebensstils, der Konsumverzicht mit einem Gewinn an Lebensqualität verbinden kann. Das alles braucht Hoffnung als Energie.

Wir müssen wieder an die Hoffnung glauben, die uns verändern kann: Die apokalyptische Resignation, die den Glauben infiziert, darf nicht pandemisch um sich greifen.
Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie, Universität Zürich

Sie haben auch auf den gerade hippen Eskapismus in Heils- und Science-Fiction-Erlösungsgeschichten hingewiesen. Was können wir tun, damit aus der Hoffnung auf Jesus eine echte Hoffnung für die Welt wird?

Wegkommen von der irrigen Idee, dass Gott irgendwo im Universum eine Erde in Reserve hat. Wir müssen wieder an die Hoffnung glauben, die uns verändern kann und hoffen, das eine apokalyptische Resignation, die den Glauben infiziert, nicht pandemisch um sich greift. Das Evangelium ist nicht eine «Lösung» für «Probleme«, die wir uns eingebrockt haben , sondern die «Kraft Gottes», aus der wir schöpfen, um neue Wege zu gehen.

Also müssen wir nach irdischen Lösungen für Probleme forschen? Oder woher kann die Erlösung kommen?

Irdische Lösung und himmlische Erlösung ist kein Gegensatz. Man soll sie nur nicht verwechseln. In einem Traktat zur Hoffnung heisst es, dass hoffnungslose Menschen entweder zur Vermessenheit neigen oder in Verzweiflung fallen. Die Hoffnung, die aus dem Gottvertrauen wächst, verändert und transformiert uns. Im Unterschied zu technischen Selbstrettungsfantasien, aber auch anders als eine quasireligiöse Resignation, geht die «transformative Hoffnung» (Günter Thomas) durch uns hindurch, berührt, beflügelt und begeistert - aber seufzt und klagt auch, «weint mit den Weinenden» und «lacht mit den Lachenden». Das Universale der Glaubenshoffnung ist etwas zutiefst Persönliches und Soziales. Man kann Erlösung nicht verordnen oder organisieren, man muss sie im Oikos, in der Gemeinschaft, leben, damit sie ihre Wirkung entfalten kann.

Engagement für Umwelt und Nachhaltigkeit aus christlicher Sicht

Ralph Kunz ist Professor für praktische Theologie an der Universität Zürich. Ausserdem ist er in der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung und im Zentrumsrat des ökumenischen Zentrums Glaube und Gesellschaft an der Universität Freiburg. Glaube & Gesellschaft schlägt Brücken zwischen akademischer Theologie und dem gesellschaftlichen Leben.

Ralph Kunz engagiert sich als Theologe auch rund um die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel. U.a. war er Initiant der Tagung «Christsein in der Klimakrise» im November 2021 in Winterthur. Auch die Studientage von «Glaube und Gesellschaft» in Fribourg im Jahr 2023 sollen sich ökolgischen Themen widmen. Dafür lägen bereits Zusagen für Referate von Schlüsselperson der christlichen Ökobewegung zu: u.a. Ruth Valerio aus England sowie vom früheren Archbishop Rowan Williams.

Gibt es für Sie so etwas wie eine Christenpflicht zur Bewahrung der Schöpfung, und was wäre das Gebot der Stunde?

Die Schöpfung zu bewahren, steht nicht in unserer Macht. Ich würde es bescheidener formulieren: Wir handeln verantwortungslos und letztlich selbstzerstörerisch, wenn wir den Planeten plündern, als gebe es irgendwo einen zweiten. Das Verbot der Stunde ist das alte «Du sollst nicht töten». Wir müssen das absolute Zerstörungsverbot ökologisch erweitern. Aber das reicht nicht! 

Was braucht es noch?

Das Gebot der Stunde ist das alte Liebesgebot. Was wir nicht lieben, können wir nicht schützen. Wenn ich etwas lernen und lehren möchte, dann ist es die Liebe zu allen Geschöpfen, die im Sonnengesang von Franziskus erklingt.

Im Zusammenhang mit der Hoffnung haben Sie verschiedentlich den Begriff «die neue Erde» gebraucht. Was ist das? Wo wird sie sichtbar, wie können wir sie erschaffen?

Die neue Erde ist eine verborgene Wirklichkeit, der Traum Gottes, sein "Gesicht" der versöhnten Schöpfung. Es ist letztlich nur poetisch auszudrücken – mit der Sprache tastend nach dem, was noch nicht ist, vorgreifend auf das, wonach wir uns sehnen, eine Welt ohne Leid und Schmerz. «Neu» ist radikal zu verstehen. Wir haben nur eine leise Ahnung davon, was auf uns zukommt, aber gehen darauf zu - und das ist konkret.

Das klingt etwas abstrakt. Wie ist das gemeint?

Die Theologie nennt es die letzten Dinge, die ins Vorletzte hineinragen, das Reich Gottes, das schon da ist, aber um dessen Kommen wir bitten. Was auf uns zukommt, ist unfassbar gut und schön. Unsere Fantasie reicht nicht aus, die kommende Welt zu sehen. Es fällt uns sogar leichter darüber zu spekulieren, was kommen könnte, wenn wir sterben und unsere Körpergeschichte zu Ende geht. So viel wage ich zu sagen: «Neue Erde» ist die kosmische Ausdehnung von dem, was das christliche Bekenntnis mit der Hoffnung auf die Auferstehung des Leibes für jeden Menschen aussagen möchte.

Die Neue Erde ist also ein Entwicklungsziel. Der CoR sieht das Wachstum als Grundübel. Was sagen Sie zum ökonomischen Wachstumsbegriff aus christlicher Sicht?

Aus christlicher Sicht ist Habgier des Teufels, wer aber ökonomisches Wachstum per se als etwas Unökologisches verteufelt, macht einen Denkfehler. Wachstum ist ein Grundprinzip des Lebens. Wir müssen wachsen. Die Frage ist, welches Wachstum wir anstreben und welchen Wohlstand wir erreichen wollen. Ein Wachstum, das auf einer Kultur der Habgier aufbaut und ein paar wenig wohlhabende Sieger und viele Verlierer produziert, ist heillos und letztlich auch zutiefst unökonomisch.