«Vernunft ist nicht nur Verstand und Rationalität»

Licht

Im 18. Jahrhundert breitete sich das Licht der Aufklärung aus. Die Philosophin Christine Abbt erklärt, was davon übrig ist und was sich gegen irrationale Tendenzen tun lässt.

Die Aufklärer verstanden ihr Zeitalter als Zeitalter des Lichts. Ist es nun wieder dunkler geworden?

Christine Abbt: Immanuel Kant unterscheidet zwischen einem Zeitalter der Aufklärung und einem aufgeklärten Zeitalter. Einst wie heute müssen wir uns ständig um Aufklärung bemühen. Das ist anstrengend und bedeutet, den Prozess des Fragens und Infragestellens in Gang zu halten, sich nicht mit der ersten oder angenehmsten Antwort zufrie­denzugeben, sondern auf der Suche zu bleiben.

Wissenschaft, Vernunft und Demokratie sind eng mit der Aufklärung verbunden. Jetzt, während der Pandemie, sind diese Begriffe all­gegenwärtig. Wie erleben Sie dies?

Vieles war nach Ausbruch der Pandemie plötzlich anders. Spontane Be­gegnungen und auch ungehemm­te Herzlichkeit und Körperlichkeit wur­den seltener. Auch waren bald einmal unterschiedliche Einschätzungen festzustellen in Bezug darauf, wie mit dem Virus gesellschaftlich angemessen umzugehen sei.

Wissenschaft und Bildung halfen einst, die Demokratie zu etablieren. Im Zuge der Pandemie werfen Kritiker den Wissenschaftlern nun vor, die Demokratie zu gefährden.

Die Beziehung zwischen der Wissenschaft und der Demokratie ist span­nungs­reich. Während in den Demokratien Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Mehrheit zen­tral sind, richten sich die Wissenschaften an Werten wie Überprüfbarkeit und Konsistenz aus. Daraus kön­nen unterschiedliche Einschätzungen resultieren. Die Auf­fassung, dass Wissenschaftlerinnen die Demokratie gefährden, wenn sie sich einbringen, halte ich für falsch. Alle sollten ein Interesse daran haben, tragfähige Lösungen für zentrale Probleme zu finden. Es wäre für Demokratien gefährlich, wenn die Stim­men der Wissenschaft verstummen müssten, weil sie nicht das sagen, was gehört werden will. Umgekehrt wäre es problematisch, fraglos der Wissenschaft zu folgen. Politisch ist es richtig, alle Positionen, die an einer fairen Lösung interessiert sind, in den Entscheidungsprozess einzu­beziehen.

Was kann das Erbe der Aufklärung in der Pandemie beisteuern?

Es verweist auf Gemeinsamkeiten, die sich trotz Differenzen ausmachen lassen. Viele wollen möglichst schmerzfrei leben und ihr Leben mög­lichst selbstbestimmt gestalten. Das ist eine tragende Grundlage. Die gesellschaftliche Spaltung wird heute von jenen befeuert, die eine Spaltung wollen, weil sie hoffen, davon politisch zu profitieren.

Die gesell­schaft­liche Spal­tung wird heute von jenen befeuert, die hof­fen, davon politisch zu profitieren.
Christine Abbt, Philosophieprofessorin

Müssen wir neu lernen, vernünf­tiger, rationaler zu diskutieren?

In der Aufklärung wurde beharrlich auf Unterscheidungsmöglichkeiten hingewiesen, zum Beispiel zwi­schen Überreden und Überzeugen, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Vorurteil und Urteil, und es wurde begründet, was alles von solchen Differenzierungen abhängt. Es wäre ein fataler Verlust, auf diese Möglichkeit zur Unterscheidung von verschiedenen Wissensformen zu verzichten. Sie ermöglicht Orientierung und ist grundlegend für Verständigung.

Warum wenden sich Menschen vom Licht der Vernunft ab, schenken zweifelhaften Informationen Glauben oder verzichten auf Errun­genschaften wie die Covid-Impfung?

Ich bin überzeugt, dass es richtig ist, sich impfen zu lassen. Ein Anliegen hierbei ist, dass niemand an Covid erkranken soll. Ebenfalls von Sorge beeinflusst, kann eine andere Person die Impfung ablehnen. Sie möchte womöglich vor etwaigen Ne­benwirkungen der Impfung schüt­zen. Wir kommen demokratisch einen grossen Schritt weiter, wenn wir zusammen über Ursachen für unsere Einstellungen reflektieren.

Was gerät aus dem Blick, wenn wir nur auf die Vernunft hören?

Vernunft ist nicht allein mit Verstand oder Rationalität gleichzusetzen, auch nicht allein mit Emotion oder Gefühl. Vernunft steht für die Bereitschaft, Rechtfertigungen einzufordern und zu geben, sich auf Ge­spräche einzulassen und dabei das Lebensfreundliche und Wohlwollen­de im Blick zu behalten.

Und wofür steht die Religion? Für das Dunkle, Okkulte – oder für das Licht, das erhellt, was der Vernunft verschlossen bleibt?

In Religionen wird versucht, anwesend und zugänglich zu machen, was abwesend und unzugänglich ist. In diesem Sinne sind viele Religionen geprägt von Praktiken, die auf Präsenzerfahrungen abzielen. Das, was nicht zu fassen ist, soll fassbar oder doch zumindest vermittelbar werden. Wenn dabei jedoch ausgeblendet wird, dass das Unfassbare unfassbar ist und bleibt, wird es, im Sinne der Aufklärung betrachtet, prob­lematisch.

Sie schreiben, dass die Philosophie «konstruktive Denkweisen auf­zeigt und komplexitätsbewusste und möglichst gewaltlose Lebensformen konkretisiert». Macht Philosophieren zum besseren Menschen?

Der aus dem Altgriechischen stammende Begriff Philosophie bedeutet dem Wortsinn nach «Freundschaft zur Weisheit». Das ernsthafte Bemühen um eine solche Freundschaft erachte ich als wünschenswert. Dieser Ansatz unterscheidet sich deutlich etwa vom Willen zur Macht, wie er in der Philosophie ebenfalls reflektiert wird.

Christine Abbt, 46

Christine Abbt, 46

Sie ist seit 2020 Professorin für Politische Philosophie an der Universität Graz. Im Zentrum ihrer Forschung stehen Fragen der Demokratietheorie und Ethik. Christine Abbt studierte Ger­manistik, Philosophie und Religionswissenschaften in Zürich und Tübingen. In ihrer Habilitation untersuchte sie das Verhältnis von Denken und Verges­sen in der Philosophie der Aufklärung.