Schwerpunkt 29. Juli 2022, von Anouk Holthuizen

Im Würgegriff der Angst um die Ehre

Blutrache

Viele Albaner haben es satt, dass ihr Land mit der Blutrache assoziiert wird. Eine Reise zeigt, dass sie zum Symptom einer Justiz geworden ist, der die Bürger nicht vertrauen.

Am 22. Februar sprach Mark Me­xha die Drohung aus, die er 25 Jahre erfolgreich unterdrückt hatte. Der 82-Jährige sass mit einem grauen Cap auf dem Kopf in der beliebten Talkshow «Shqipëria Live» von Top Channel. Vor den Kameras des grössten Fernsehsenders von Albanien sagte er, dass ihm die Geduld ausgehe. 1997 war sein Neffe erschossen worden, es folgten zermürbende Jahre, in denen er vom Täter, dessen Familie und der Justiz betrogen wurde. Mexha sagte: «Stets habe ich versucht, die Sache friedlich zu lösen. Es ist nicht gelungen. Vielleicht muss ich es nun auf meine Art zu Ende bringen.»

Jeder albanische Zuschauer wusste in jenem Moment, was der bedachtsam sprechende Herr damit meinte: Er erwog Blutrache. Die beiden Moderatoren nickten, sie hatten keine Fragen mehr und bedankten sich für das Gespräch.

In den Tagen danach erschienen unter der Aufzeichnung der Show auf Youtube lauter zustimmende Kommentare. «Blut wird mit Blut gewaschen, nicht mit Gefängnis!», schrieb einer, «Respekt für diesen weisen Mann!», ein anderer. Eine indirekte Morddrohung erntet in Albanien im Jahr 2022 Applaus.

Nicht Gott spielen

«Ich wollte nie an diesen Punkt gelangen», sagt Mark Mexha drei Monate nach seinem Fernsehauftritt. In einer Bundfaltenhose und einem frisch gebügelten Hemd sitzt er aufrecht auf dem Sofa seines Wohnzimmers. Er wirkt müde. Hier, in einem leuchtend gelben Haus am Stadtrand von Tirana, lebt er mit seiner Frau, einer Tochter und deren Familie. Seine vier anderen Kinder wohnen im Ausland.

An einer Wand hängt ein Bild von Adam und Eva, an einer anderen ein Kreuz. Die Mexhas sind gläubige Katholiken wie viele ihrer Landsleute aus dem Norden. Mark Me­xha sagt: «Keiner Wissenschaft ist es je gelungen, Menschen zu zeugen. Wenn wir Leben nicht erschaffen können, dürfen wir auch nicht über den Tod bestimmen. Das darf nur Gott.» Er habe nie töten wollen, doch manchmal fürchte er, dass die Wut überhandnehme. 

Das Drama fing mit einem Zwischenfall am späten Abend des Ostersonntags 1997 an. Mexhas Neffe Marashi zog mit Freunden durch das dunkle Dorf. Nach dem festlichen Tag waren sie betrunken. Einer, Mirgen, spielte mit einem Gewehr herum. Plötzlich löste sich ein Schuss, Marashi sackte zusammen.

Vier Stunden später starb der 27-Jährige in Mexhas Armen auf dem Weg ins Spi­tal, sein Vater lag schwer krank zu Hause im Bett. Erst kurz vor seinem Tod erzählte Marashi, wer geschossen hatte. Mexha beschloss, den Namen für sich zu behalten. «Hätte ich meiner Familie erzählt, wer der Täter war, hätten meine Söhne ihn sofort getötet», sagt er. «Auch war nicht klar, ob Mir­gen absichtlich oder aus Versehen geschossen hatte.»

Am offenen Sarg des Sohnes

Drei Tage später fand die Beerdigung statt. Marashis Vater wandte sich am offenen Sarg an die versammelte Dorfgemeinschaft: «Wenn der Täter jetzt gesteht und mir sagt, dass er meinen Sohn unabsichtlich getötet hat, werde ich ihm vergeben.» In der Kirche blieb es still. Auch Mark Mexha schwieg. «Ich konnte nicht sagen, dass es Mirgen war, denn ich hatte keine Beweise.» Er fürchtete, als ein «unehrenhafter Lügner» beschimpft zu werden.

Nach der Beerdigung hoffte Me­xha weiterhin auf Mirgens Geständnis. «Damit hätten wir die Geschichte beenden können.» Stattdessen nahm sie eine üble Wende. Vor dem Ältestenrat des Dorfes beschuldigte Mirgens Familie einen Nachbarn – eine Behauptung, die erst Jahre spä­ter widerlegt werden sollte. Mirgens Onkel hatte sie wohl aus Angst vor Blutrache gemacht.

Mit der Einwilligung von Mara­shis Vater beschloss Mexha, den juristischen Weg zu beschreiten, und kontaktierte einen Anwalt. In jenen Jahren war das nicht selbstverständlich. Nach dem Ende des kommunistischen Regimes 1990 fehlte in Albanien eine etablierte Gerichtsbarkeit. Die staatlichen Strukturen waren schwach, die Mordrate hoch. Mexha versuchte es dennoch – und erlebte jahrelange  Demütigung. Erzählte er bisher ruhig, so wird er nun laut: «Das Gericht in Puka, wo unsere Familien damals wohnten, verschob Termin um Termin. Fand eine Anhörung statt, tauchte mein Anwalt oft gar nicht auf!»

Nach zehn Jahren, in denen Me­xha erfolglos versucht hatte, Licht ins Dunkel zu bringen, zog er den Fall weiter ans Gericht des Verwaltungskreises Shkodra. Dort sagte man ihm, die Sache sei nun verjährt. Als er das erzählt, reibt er die Fingerspitzen seiner rechten Hand aneinander, die Geste für Korruption. Die Mexhas sind überzeugt, dass Mirgens Familie jahrelang die Anwälte und Richter bestach.

Korruption ist in Albanien weitverbreitet, nicht nur im Justizwesen, auch in Wirtschaft und Politik. In den Neunzigerjahren, als Mara­shi ums Leben kam, war sie noch viel ausgeprägter, doch auch heute behindert sie die Entwicklung des Landes. Jeder fünfte Einwohner lebt unter der Armutsgrenze.

Die Spuren verwischt

In letzter Zeit versucht die albanische Regierung verstärkt, die Missstände zu beseitigen, denn das Land ist seit 2014 EU-Beitrittskandidat. Korruption, organisiertes Verbrechen und die schlecht funktionierende Justiz blockierten lange die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, nun wurden Gesprächen angekündigt. Auf Druck der EU werden seit 2018 die Besitzverhältnisse und die Karrierewege sämtlicher Richter und Staatsanwälte durchleuchtet. Fast die Hälfte der Richter und rund ein Drittel der Staatsanwälte mussten ihre Sessel räumen.

Mark Mexhas Auftritt bei Top Channel ist vor diesem Hintergrund mehr als ein öffentlich ausgetragener Familienkonflikt. Er entblösst die Schwächen des Staates. Mexha sagt: «Was nach Marashis Tod passierte, machte alles viel schlimmer. Je weniger Respekt man bekommt, desto grösser wird der Hass.»

Erst sein dritter Versuch 2019 vor einem Gericht in Tirana brachte den lang ersehnten Ermittlungserfolg. Kriminalpolizisten hörten Mirgens Handygespräche ab, und es wurde klar: Er war es. Er hatte im Suff fahrlässig getötet. Das Gericht verurteilte ihn zu vier Monaten Gefängnis. Nicht, weil er getötet, sondern weil er über alle die Jahre die Tat geleugnet hatte. Mexha sagt, er akzeptiere das Urteil gegen Mirgen. «Aber ich bin immer noch wütend, dass das Gericht nie klärte, wer die Spuren verwischt hatte.» Er glaubt, die Antwort zu kennen: Ein Onkel von Mirgen, der damals beim Staat arbeitete, habe den Täter gedeckt.

Allerdings fand Mexha nicht nur deshalb nach dem Prozess noch immer keine Ruhe. Seine Kränkung war nicht aufgehoben.

Eine Tötung gilt in Albanien immer auch als Angriff auf die Familienehre. Um sie wiederherzustellen, wird entweder auf Blutrache zurückgegriffen, oder die Familie des Opfers vergibt der Familie des Täters in einem Ritual. Weder das eine noch das andere hatte stattgefunden, weshalb für die Familie Mexha die Fehde weiterhin offen blieb.

Der Ehrbegriff spielt im sozialen Gefüge der albanischen Gesellschaft immer noch eine zentrale Rolle – selbst im Jahr 2022, wo auch Reichtum und ein Karrierejob zu Respekt verhelfen können.

Familien in der Isolation

Die Ehre zu erhalten, war jahrhundertelang der Leitfaden jeglichen Handelns und die Basis des albanischen Gewohnheitsrechts, des Kanuns. Der umfassende Kodex wurde erst im 20. Jahrhundert durch den Franziskanerpater Shtjefën Gjeçovi verschriftlicht und 1933 erstmals publiziert. Er deckt alle Bereiche des Lebens ab: von Ehe über Erbschaft bis Straf- und Kirchenrecht. Mit seinen 1262 Artikeln ist er ein differenzierter Vorläufer des modernen Rechts. Viele Albaner vertrauen diesem Kodex noch immer mehr als den Gesetzen des Staats.

Im Kanun gilt die Familie als heilig und die Blutrache als legitimes Mittel, einen Angriff auf die Familie zu sanktionieren. Wird eine Person von jemandem getötet, darf die Familie des Opfers «Blut nehmen» und den Täter oder einen seiner männlichen Blutsverwandten umbringen. Dieser Ausgleich wird auf Albanisch «Gjakmarrja» genannt.

Die Zahl der Gjakmarrja-Fälle ist stark gesunken, und so mancher Albaner ist es leid, dass sein Land immer wieder damit assoziiert wird. Doch Top Channel und die Tatsache, dass Blutrache weiterhin strafrechtlich kaum geahndet werden, machen diesen Februar deutlich: «Blut für Blut» steckt noch tief im kulturellen Gedächtnis. Im letzten Jahr registrierte das Nationale Versöhnungskomitee, eine Nichtregierungsorganisation, die Mediatoren in Familienkonflikten einsetzt, elf Fälle von Blutrache und 56 Tötungen, die Blutrache nach sich ziehen könnten. Über 10 000 Personen kamen seit 1990 wegen Familienfehden ums Leben. Und aus Angst vor Vergeltung verschanzten sich viele jahrelang in ihren Häusern oder zogen ins Ausland. Auch heute leben Hunderte Familien in Isolation.

Längst nicht alle Familien, die sich der Tradition verpflichtet fühlen, üben Vergeltung. Der Kanun gibt eine Alternative: Vergebung und Versöhnung. Familien können Mediatoren beauftragen, in Streitfällen zu schlichten. Traditionell übernahmen die ältesten Männer aus dem Dorf die Verhandlungen, heute tun dies vor allem Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, darunter inzwischen auch Frauen, sowie Priester und Imame.

Die traditionellen Vorstellungen von Ehre setzten Mark Mexha jahrelang unter Druck. Der Tod seines Neffen, das Verhalten der Täterfamilie und das Zaudern der Gerichte demütigten ihn zutiefst. Zahlreiche Bekannte bedrängten ihn, sich zu rächen: «Sie sagten mir, ich sei kein Mann.» Tatsächlich habe er einige Male daran gedacht, Mirgen zu töten. «Aber ich betete jedes Mal zu Gott, er möge mir helfen, stark zu bleiben und zu widerstehen.»

Angriff im Fernsehen

Das Nationale Versöhnungskomitee, das vom Konflikt erfahren hatte, kontaktierte nach dem Prozess in Tirana die beiden Familien, um eine Versöhnung in die Wege zu leiten. Beide Parteien willigten ein.

halbes Jahr lang führten die Mediatoren Gespräche mit den verfeindeten Familien. Doch am 7. Februar tat Mirgens Onkel Pjetr etwas Verheerendes: Er trat in der Talkshow «Shqipëria Live» auf und bezichtigte Mark Mexha, ein unzurechnungsfähiger alter Mann zu sein, der Lügen verbreite. Pjetr bezeichnete Mirgen als «Beschuldigten», als gäbe es kein Gerichtsurteil.

Erregt erzählt Mark Mexha von jenem Moment. «Ein Bekannter rief an und sagte, ich solle den Fernseher einschalten. Danach konnte ich drei Tage nicht schlafen, meine Hände zitterten ununterbrochen.»

Auch die Mediatoren waren entsetzt. Nach ihrer Einschätzung beging Pjetr eine Verzweiflungstat: Da Mirgen erst nach 22 Jahren gestanden hatte, galt nun seine Familie als unehrenhaft. Mit dem Fernsehauftritt unternahm das Oberhaupt der Sippe einen destruktiven Versuch, die Ehre zu retten.  Drei Wochen später trat Mexha bei Top Channel auf. Die Familien sind bis heute nicht versöhnt. Zum Zeitpunkt des Gesprächs in seiner Wohnung im Juni war Me­xha noch nicht bereit, den Schlichtungsprozess wieder aufzunehmen. Mirgen tauchte nach Mark Mexhas Fernsehauftritt unter. Der Onkel, der die Spuren verwischt haben soll, ist ins Ausland gezogen.