Schwerpunkt 29. Juli 2022, von Anouk Holthuizen

Wie ein Priester die Spirale der Gewalt durchbricht

Blutrache

Beim Kaffee in der Bar und bei Ritualen in der Kirchen: Wie der italienische Priester Raffaele Gagliardi in Norden Albaniens mit Seelsorge die Spirale der Gewalt durchbricht.

Abends trinkt Pater Raffaele Gagliardi gern einen Espresso in der Bar Riku in seinem Dorf Gur i Zi im Norden Albaniens. Er sagt: «Seit ich hier lebe, sitze ich oft in Cafés. Da erzählen mir die Leute ihre Sorgen.»

1997 wurde der Pater von seiner Heimat Italien nach Albanien in die Mission geschickt. Er ahnte nicht, dass er bald viel Zeit damit verbringen würde, Morde zu verhindern. Albanien befand sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1990 im Chaos. Eine schwache Regierung versuchte, das Land aus der Armut zu führen, die Kriminalität war hoch. Unter Diktator Enver Hoxha vollzog quasi der Staat die Blutrache, indem Tötungsdelikte mit der Todesstrafe geahndet wurden. Nun griff man wieder zur Selbstjustiz.

Vom Bischof dazu verpflichtet

Don Raffaele erinnert sich auf der Terrasse der Bar an die ersten Monate: «Kurz nach meinem Start bat mich eine Familie, in einem Konflikt zu vermitteln. Der Sohn hatte im Streit seinen besten Freund erschossen, und es bestand die Gefahr von Blutrache.» Der Pater fragte den Bischof der Diözese, ob er sich einschalten müsse. «Mir war das Thema fremd. Doch der Bischof sagte, das gehöre zu meiner Arbeit.»

So wurde Don Raffaele wie viele Pfarrer und Imame in Albanien Experte für Menschen, die nach Rache sinnen, aus Schmerz über den Verlust eines ge­liebten Menschen und auch aus Angst, zum Gespött der Gemeinschaft zu werden, falls sie nicht auch töten.

Den Enkel als Rächer bestimmt

Zwölf Mediationen hat er seither gemacht, zwei sind noch im Gange. Er sagt: «Versöhnungen dauern viele Jahre und sind sehr heikel. Lässt sich eine Familie darauf ein, heisst das noch nicht, dass sie vergeben wird.»

Den Ablauf einer Mediation erzählt er anhand eines Falls, der ihn lange beschäftigte: Ein Mann hatte in einem Streit um Land den Vater zweier Buben getötet. «Nach der Beerdigung begleitete ich die Familie des Opfers. Ich besuchte sie an allen Feiertagen, da dann der Schmerz besonders gross ist.» Nach einigen Monaten habe er zusammen mit anderen Respektspersonen aus dem Dorf eine Schlichtung angesprochen, sei jedoch auf Widerstand gestossen. «Die Mutter des Opfers war dagegen. Sie wollte, dass ihr Enkel Arim, damals drei Jahre alt, sobald er volljährig ist, den Täter erschiesst.» Erst zehn Jahre später, als Arim Kommunion feierte, war die Familie für eine Versöhnung bereit.

Erst wenn die Familien zusammen Kaffee getrunken haben, ist die Vergebung besiegelt.
Pater Raffaele Gagliardi

Während Raffaele erzählt, kommt ein junger Mann hinzu. Der Pater begrüsst ihn herzlich und zeigt in den Himmel: «Der da oben hat dich gerade jetzt zu uns geschickt.» Er stellt ihn vor: «Das ist Arim, inzwischen 21.» Er erklärt Arim, wovon das Interview handelt, und fragt ihn: «Erzählst du weiter?» Arim schaut verlegen auf seine Hände, nickt und berichtet, ohne aufzublicken: «An meiner Kommunion wollte ich einen wichtigen Schritt im Leben machen. Gott gab mir plötzlich die Kraft zu vergeben.»

Raffaele fährt fort. «Arim war damals 13. Danach dauerte es drei Jahre bis zum Ritual, denn es musste erst noch die Grossmutter überzeugt werden.» Die Mütter und Ehefrauen seien oft schwieriger zu überzeugen.

Die Familien zu beiden Seiten des Paters

Das Vergebungsritual fand in der Kirche von Gur i Zi statt. Die Familien standen zu beiden Seiten des Paters. Er las erst eine Passage aus der Bibel und küsste dann ein Holzkreuz, das er der Opferfamilie weiterreichte. «Gemäss den Regeln sagte diese, dass sie vergeben will, und alle Mitglieder küssten daraufhin das Kreuz.» Nun gab Raffaele es der Familie des Opfers.

Sie mussten sagen: «Danke, dass ihr uns vergebt. Wir können nicht zurückgeben, was wir genommen haben.» Dann küssten auch sie das Kreuz. Nach dem Ritual in der Kirche gingen alle zum Haus der Opferfamilie. «Erst wenn die Familien zusammen Kaffee getrunken haben, ist die Vergebung besiegelt.» Versöhnungsrituale würden alle ähnlich ablaufen, auch in Moscheen oder im Haus der Opferfamilie. Raffaele faltet die Hände: «Gott sei Dank gibt es immer weniger Morde.»

Der Mörder des Vaters

Aus der Bar kommt plötzlich ein älterer Herr, begrüsst den Pater und Arim. Während der Priester mit ihm plaudert, schaut Arim mit abwesendem Blick in die Nacht. Als der Mann wieder in der Bar verschwunden ist, sagt Raffaele: «Er erschoss damals Arims Vater.» Er legt Arim den Arm um die Schulter, drückt ihn und sagt: «Noch nie hat jemand den Frieden gebrochen.»