Abends trinkt Pater Raffaele Gagliardi gern einen Espresso in der Bar Riku in seinem Dorf Gur i Zi im Norden Albaniens. Er sagt: «Seit ich hier lebe, sitze ich oft in Cafés. Da erzählen mir die Leute ihre Sorgen.»
1997 wurde der Pater von seiner Heimat Italien nach Albanien in die Mission geschickt. Er ahnte nicht, dass er bald viel Zeit damit verbringen würde, Morde zu verhindern. Albanien befand sich seit dem Zusammenbruch des Kommunismus 1990 im Chaos. Eine schwache Regierung versuchte, das Land aus der Armut zu führen, die Kriminalität war hoch. Unter Diktator Enver Hoxha vollzog quasi der Staat die Blutrache, indem Tötungsdelikte mit der Todesstrafe geahndet wurden. Nun griff man wieder zur Selbstjustiz.
Vom Bischof dazu verpflichtet
Don Raffaele erinnert sich auf der Terrasse der Bar an die ersten Monate: «Kurz nach meinem Start bat mich eine Familie, in einem Konflikt zu vermitteln. Der Sohn hatte im Streit seinen besten Freund erschossen, und es bestand die Gefahr von Blutrache.» Der Pater fragte den Bischof der Diözese, ob er sich einschalten müsse. «Mir war das Thema fremd. Doch der Bischof sagte, das gehöre zu meiner Arbeit.»
So wurde Don Raffaele wie viele Pfarrer und Imame in Albanien Experte für Menschen, die nach Rache sinnen, aus Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen und auch aus Angst, zum Gespött der Gemeinschaft zu werden, falls sie nicht auch töten.
Den Enkel als Rächer bestimmt
Zwölf Mediationen hat er seither gemacht, zwei sind noch im Gange. Er sagt: «Versöhnungen dauern viele Jahre und sind sehr heikel. Lässt sich eine Familie darauf ein, heisst das noch nicht, dass sie vergeben wird.»
Den Ablauf einer Mediation erzählt er anhand eines Falls, der ihn lange beschäftigte: Ein Mann hatte in einem Streit um Land den Vater zweier Buben getötet. «Nach der Beerdigung begleitete ich die Familie des Opfers. Ich besuchte sie an allen Feiertagen, da dann der Schmerz besonders gross ist.» Nach einigen Monaten habe er zusammen mit anderen Respektspersonen aus dem Dorf eine Schlichtung angesprochen, sei jedoch auf Widerstand gestossen. «Die Mutter des Opfers war dagegen. Sie wollte, dass ihr Enkel Arim, damals drei Jahre alt, sobald er volljährig ist, den Täter erschiesst.» Erst zehn Jahre später, als Arim Kommunion feierte, war die Familie für eine Versöhnung bereit.