Schwerpunkt 29. Juli 2022, von Anouk Holthuizen

Wie der Psychologe die Praxis füllte und ein Radio gründete

Blutrache

Nach harzigem Start sah der Psychologe Altin Nika bald Kinder, die kaum sprachen und schwer depressiv waren. Er ist überzeugt: Die albanische Gesellschaft muss dringend lernen.

Als Altin Nika 2011 im Erdgeschoss eines Wohnblocks im Zentrum von Shkodra seine Praxis für psychologische Beratungen eröffnete, erschien in den frisch gestrichenen Räumen in den ersten vier Tagen kein einziger Mensch, obwohl der damals 24-jährige Psychologe viel Werbung gemacht hatte. Am fünften Tag kam ein Mann durch die Tür, stellte sich mit verschränkten Armen hin und sagte: «Warum zum Teufel wollen Sie mit Menschen über Gefühle reden?»

Lachend erzählt Altin Nika diese Episode im Mai 2022. «Ich war der erste Psychologe in der Region. Die Leute verstanden nicht, was das ist.» Der Terminkalender von Shërbimeve Psikologjike ist inzwischen stets voll, und in Nikas Praxis arbeiten zwei weitere Psychologinnen und ein Psychologe.  Einer der drei Therapieräume ist auf Kinder ausgerichtet. Er ist bunt gestrichen, in einem Regal stehen Spielfiguren, Stofftiere und Farbstifte.

Mit den Kindern angefangen

Weil der Start der Praxis derart harzig verlief, änderte Nika seine Strategie und beschloss, sich vorerst auf Kinder und Jugendliche zu konzentrieren. «Ich dachte: Eltern mit schwierigen Kindern könnten ein Interesse daran haben, die Probleme zu lösen, und sich so für meine Arbeit interessieren.»

Er verteilte Flyer in Kindergärten und Schulen. Der Plan ging auf: Bald kamen Eltern mit ihren Kindern vorbei. Und dann begannen immer mehr zu fragen, ob sie vielleicht auch mal allein vorbeikommen könnten.

Hier greifen die Men­schen in einem Streit sehr schnell zur Gewalt, das lernen sie bereits als Kinder.
Altin Nika, Psychologe

Die Arbeit des jungen Psychologen sprach sich schnell herum. 2013 bat ihn die Justice and Peace Commission, die Mitglied des europaweiten katholischen Netzwerks Justizia et Pax ist, in einem Projekt mitzumachen. Während eines Jahres sollte er Kinder in zwölf von Blutrache bedrohten Familien, die in Isolation lebten, psychologisch begleiten.

Auf diese Weise bekam er Einblick in eine Thematik, die er bis dahin nur aus Erzählungen gekannt hatte. Er sah Dutzende Kinder, die kaum sprachen, ihm nicht in die Augen schauen konnten und schwer depressiv waren. Kinder in Isolation dürfen nicht zur Schule und das Haus nicht verlassen. Da jemand aus ihrer Familie jemanden getötet hat, besteht die Gefahr, dass ein Familienmitglied des Opfers Rache an der Familie des Täters nimmt.

Das Gewohnheitsrecht, der Kanun, sieht eigentlich nur Blutrache gegen den Täter vor, doch die traditionellen Regeln werden immer weniger respektiert. Mittlerweile ist potenziell jedes Mitglied einer Täterfamilie bedroht, weshalb ganze Familien viele Jahre in ihren Häusern gefangen sind und häufig total verarmen.

Eine lange Tradition der Gewalt

Nach diesem Projekt mit der Kirche war Altin Nika mehr denn je überzeugt, dass die albanische Gesellschaft dringend lernen muss, Konflikte friedlich zu lösen. Er sagt: «Hier greifen die Men­schen in einem Streit sehr schnell zur Gewalt, das lernen sie bereits als Kinder.» Um zu illustrieren, was er meint, gibt der Psychologe ein Beispiel: «Nimmt Amela ihrem Schulkameraden Arian die Stifte weg, sagen die Eltern zu Arian: ‹Warum hast du das zugelassen, geh und kämpf um deine Stifte!›» In Albanien lerne man von klein auf: Wenn mich jemand angreift, schlage ich zurück.

Als sich Altin Nika, der inzwischen Vater einer Tochter ist, eines Tages auf dem Heimweg im Auto überlegte, wie er möglichst viele Menschen gleich­zeitig für einen konstruktiven Umgang sensibilisieren könnte, hatte er eine Idee: «Ich hörte Radio und dachte plötz­lich: Das ist es.» So wurde Radio Chill Albania geboren. Auf Altin Nikas Kanal legt DJ Mind Sensation live Musik auf, und sechs Psychologen diskutieren ab­wechselnd psychologische Themen und beantworten Hörerfragen.

Zusammenarbeit mit der Polizei

Der innovative Mann weckte das Interesse der Polizei. Seit zwei Jahren wird der 35-Jährige angefragt, um delinquente Minderjährige zu befragen und für Therapien zu motivieren. Die Polizei werde heute viel häufi­ger gerufen, sagt Nika. «Die Leute wissen langsam, dass sie in einem Streit besser die Nummer 129 anrufen, statt sich zu prügeln.» Albanien befinde sich im Übergang, nicht nur was die Justiz betreffe, sondern auch die Gesinnung. «Immer mehr Menschen wollen ihren eigenen Weg gehen und nicht jenen, den die Gesellschaft für richtig hält.»