Schwerpunkt 29. Juli 2022, von Anouk Holthuizen

Als die Lehrerin mit Kindern verfeindeter Familien ausflog

Blutrache

Liljana Luani unterrichtet Kinder aus Familien in Blutrache-Situation. Und sie weiss: «Haben Kinder zusammen Spass, vergessen sie den Hass.»

Das Büro von Liljana Luani an einer der Hauptachsen von Shkodra in Nord­al­banien hat Symbolcharakter. Das Häus­chen mit Glasfront, drei Tischen und einem Computer mitten in einer Ladenzeile macht sichtbar, was gemäss den Angaben der Polizei in Albanien kaum noch existiert: Familien, die aus Angst vor einer Blutrache jahrelang isoliert in ihren Häusern leben.

Denn im knapp zwölf Quadratmeter grossen Raum unterrichtet die 61-Jährige täglich 65 Kinder aus 40 Familien, die fast alle in einer Blutrache-Situation verharren. Die meisten unterrichtet sie zusammen mit fünf anderen Freiwilligen per Zoom, manche besucht sie bei ihnen daheim, und seit einiger Zeit kommen immer mehr für den Unterricht in das kleine Lokal.

Das preisgekrönte Friedensprojekt

Auf diese Tatsache ist Luani besonders stolz: Manchen verfehdeten Familien konnte sie das Versprechen abringen, dass den Kindern nichts geschieht, wenn sie zur Schule gehen. Ein Bildungsprojekt, das sie 2005 aus Betroffenheit allein lancierte, ist zum Friedensförderungsprojekt geworden, für das sie 2019 in Dubai den Global Teacher Prize erhielt.

Luani unterrichtete viele Jahre lang an der Vashko-Vaso-Schule in Shkodra, einer Schule mit vielen Kindern vom Land. 2005 fragten die Rotkreuz-Organisationen von Albanien und Spanien sie an, ob sie mithelfe, Kinder zu identifizieren, die nicht zur Schule gehen. Luani, die aus einem kleinen Bergdorf stammt, sagte zu. Sie erzählt: «Wir besuchten Familien, von denen die meisten zu arm waren, ihre Kinder zur Schule zu schicken.»

Der weinende Junge

Eines Tages traf die Lehrerin einen Jun­gen, den sie aus dem Schulhaus kannte, aber lange nicht gesehen hatte. «Ich fragte ihn, warum er nicht zur Schule gehe. Er antwortete mit Tränen in den Augen: ‹Wir leben in Blutrache.›» In diesem Moment habe sie ihm spontan versprochen, ihn daheim zu unterrichten. «Er berührte mein Herz.»

Es ist gut, dass uns so viele unterstützen, aber wichtiger wäre es, wenn end­lich die Gesetze angewendet würden!
Liljana Luani, Lehrerin

Bald kamen weitere Kinder hinzu, Luani besorgte Bücher, Stifte und Esswaren für die verarmten Familien und investierte ihre Freizeit und Geld darin. Zugleich sprach sie auf der Gemeinde vor, schrieb Briefe ans Bildungsministerium. «Ich wollte deutlich machen, wie dringlich Bildung und soziale Kontakte für Kinder sind, und forderte sie auf, sich gegen Blutrache einzusetzen.» Doch jahrelang sei nichts geschehen. «Ich war frustriert. So viele Kinder ohne Perspektive, und niemanden interessierte es.»

Die mutige Frau

Erst 2017 drehte der Wind. Mit der Unterstützung des staatlichen Energieunternehmens Oshee, das einen Teil des Budgets in soziale Projekte investieren muss, führte Luani eine Studie zur Situation von Kindern in Isolation in sechs Verwaltungskreisen des Landes durch. Die Resultate schickte sie allen sozialen Institutionen, Schulen und Behörden in der Region.

Die Studie weckte die Aufmerksamkeit der US-Botschaft in Tirana, die ihr daraufhin medienwirksam den Titel «Woman of Courage» verlieh. Daraufhin versprach Oshee, sämtliche Familien, in denen Liljana unterrichtete, mit Gratis-Tablets, Internetanschlüssen und Grundnahrungsmitteln auszustatten, und das tut die Firma bis heute. Politisch ging weiterhin nichts.

Kinder als Friedensstifter

Luani, die inzwischen mit einem ganzen Team freiwilliger Lehrerinnen und Lehrer auch obdachlose Kinder und solche aus Roma-Familien unterrichtet, sagt: «Es ist gut, dass uns so viele unterstützen, aber wichtiger wäre es, wenn end­lich die Gesetze angewendet würden!» Trotz allem ist sie überzeugt, dass die Öffentlichkeit für die Problematik sensibilisiert ist. «Ich höre immer mehr Kritik an der Blutrache. Wir müssen andere Lösungen finden, als zu emigrieren oder zu töten.»

Im Sommer 2021 probierte Frau Luani etwas Neues. Sie fragte zwei verfehdete Familien, ob sie mit de­ren Kindern ein paar Tage ans Meer dürfe. Nach einigem Zögern sagten die­se zu, trotz Angst, einem der Kinder könnte etwas zustossen. Während Lua­ni erzählt, zeigt sie auf dem Handy ein Video von Jugendlichen, die fröhlich im Meer baden. «Alles ging gut. Sie kehrten als Freunde zurück nach Hause und sagten ihren Eltern, sie sollten die Blutrache be­enden. Haben Kinder zusammen Spass, vergessen sie den Hass.» Diesen Sommer zog sie erneut los, mit Kindern aus zwei weiteren Familien.