Schwerpunkt 29. Juli 2022, von Anouk Holthuizen

Der Tradition des Kanun wird mehr vertraut als der Justiz

Blutrache

Respekt spielt in der Arbeit von Gijn Marku eine zentrale Rolle – warum das von ihm geleitete nationale Versöhnungskomitee dem Kanun mehr zutraut als dem staatlichen Rechtssystem.

Es dürfte schwierig sein, von Gijn Marku ein Foto zu finden, auf dem er ohne Anzug und Krawatte zu sehen ist. Eine ordentliche Bekleidung ist für den Mann, dessen Name den meisten Albanerinnen und Albanern ein Begriff ist, ein Zeichen der Wertschätzung des Gegenübers. Und Respekt spielt in seiner Arbeit eine elementare Rolle.

Der 66-Jährige gründete 1990 das Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar, das nationale Versöhnungskomitee. Die Organisation wollte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verhindern, dass während des Kommunismus abgestrafte Familien sich an kommunistisch gesinnten Familien rächten. Dazu setzte das Komitee Mediatoren ein, die auf Basis des im Kanun festgehaltenen Gewohnheitsrechts zwischen den Familien vermittelten. Bald jedoch schlichteten die Versöhnungsmissionare auch in anderen Konflikten, denn die Bevölkerung verübte nach dem Zusammenbruch des Regimes von Diktator Enver Hoxha, in dem auf Blutrache die Todesstrafe stand, wieder vermehrt Vergeltungsmorde.  

Büro neben dem Justizpalast

Auch 42 Jahre nach seiner Gründung ist das Komitee, dessen Leiter Gijn Marku noch immer ist, gefragt: 3500 freiwillige Mediatoren wirken in Albanien und in den albanischen Gemeinschaften in Kosovo und Mazedonien in Familienfehden und verhindern zahlreiche Blutrachemorde. Allein im Jahr 2021 vermochten sie in Zusammenarbeit mit lokalen Respektspersonen 54 Familien zu versöhnen. 

Passenderweise befindet sich das kleine, flaschengrün gestrichene Büro von Gijn Marku keine 50 Meter vom Justizpalast in Tirana entfernt. Er sagt: «In schwierigen Konflikten mit der Familie oder Nachbarn wenden sich viele Albaner lieber an die traditionelle Gerichtsbarkeit als an die staatliche Justiz. Letztere zeigte bisher zu wenige gute Beispiele, als dass man ihr vertrauen könnte.» 

Die Albaner sind keine Barbaren. Der Kanun garantierte jahrhundertelang eine Kultur des Respekts und strenger sozialer Gesetze.
Gijn Marku, Leiter des nationalen Versöhnungskomitees Komiteti i Pajtimit Mbarëkombëtar

Marku hat zuerst albanische Literatur und Sprache, danach albanische Kultur und Tradition und anschliessend noch traditionelles Recht in der geografischen Wiege des Kanuns, der Mirdita, studiert. Ist er auf einer seiner zahlreichen Reisen im Ausland, unter anderem als Gast im Sicherheitsrat der UNO, wird er nicht müde zu betonen: «Die Albaner sind keine Barbaren. Der Kanun garantierte jahrhundertelang eine Kultur des Respekts und strenger sozialer Gesetze.»

Kein Vertrauen in den Staat

Marku, der selbst in Hunderten Versöhnungsprozessen mitwirkte, ist der Meinung, dass das albanische Justizwesen in der Bevölkerung bis heute nicht ansatzweise ein Renommee aufbauen konnte, das es mit dem Vertrauen in den Kanun aufzunehmen vermag. Der Mediator sagt: «Wir können heute aber besser mit der Polizei zusammenarbeiten als noch vor zehn Jahren, und eine zunehmende Anzahl Leute ruft in Streitereien die Polizei, um Schlimmeres zu verhindern.»

Doch insgesamt grassiere weiterhin die Korruption, mit manchmal schlimmen Folgen. «Die Bestechlichkeit der Richterinnen und Richter hat in vielen Fällen dazu geführt, dass die Leute nach unfairen Urteilen erst recht auf die Blutrache zurückgriffen.» Die Regierung beobachtet umgekehrt mit Skepsis die Arbeit des nationalen Versöhnungskomitees. Denn obwohl es Familien versöhnt, stärkt es zugleich den Kanun, was die Etablierung einer unabhängigen, nach rechtsstaatlichen Prinzipien arbeitenden Justiz tendenziell erschwert.

In Strassburg Staat angeklagt

2005 reichte das Komitee vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und am Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Klage gegen die albanische Regierung ein, weil diese in mafiöse Geschäfte involviert war. Die Regierung verlangte daraufhin, dass das Komitee aufgelöst wird, und setzte Gerüchte in Umlauf, wonach die Mediatoren sich für ihre Arbeit bezahlen liessen, was die Tradition verbietet. Erst als 2013 Edi Rama Ministerpräsident wurde, nahmen die Anschwärzungen ein Ende, und das Komitee konnte wieder mit der Polizei kooperieren. Marku sagt: «Die Justizreform stimmt mich hoffnungsvoll. Aber wir haben noch einen weiten Weg vor uns.»

Eine Tochter von Gijn Marku ist Anwältin in den USA. Er wünscht sich, dass sie eines Tages zurückkehrt. «Albanien braucht dringend gute Vorbilder.»