Kleine Wunder passieren immer wieder

Früh am Morgen

Im Zürcher Akutspital Sune-Egge des So­zialwerks Pfarrer Sieber herrscht viel Betrieb, wenn der Tag anbricht. In der Ca­feteria finden tiefgründige Gespräche statt.

Der Mond steht noch am Himmel, Vögel zwitschern im Morgengrauen und lassen trotz eiskalter Luft, die den Atem sichtbar macht, den Frühling erahnen. Die sonst so betriebsame Konradstrasse im Kreis 5 hinter dem Zürcher Hauptbahnhof ist um diese Zeit fast menschenleer. Vor dem Hauseingang Nummer 62 geht ein Mann auf und ab. Er wirkt nervös, wartet auf sein Methadon, das ihm am Empfang des Akutspitals Sune-Egge abgegeben wird.

Im Wohnblock, wo das Spital untergebracht ist, herrscht bereits rege Betriebsamkeit. Die Putzequipe ist im Einsatz, im Treppenhaus duftet es frisch nach Zitrone und gleichzeitig etwas steril. In der Cafeteria, die um 6.30 Uhr öffnet, wähnt man sich hingegen gar nicht im Spital. Eher in einem Bahnhofsbuffet: Iris, Jon und Charly, ehemalige Drogensüchtige, die einst auf dem Platzspitz verkehrten, sitzen um den grossen runden Tisch im abgetrennten Raucherzimmer. In der Mitte steht ein Aschenbecher. Nach jedem Zug an der Zigarette fallen Jon die Augen zu. Ein Fernseher flimmert im Hintergrund. Noch sind die Vorhänge an den Fenstern zugezogen.

«Ich bin immer als Erste hier», sagt Iris stolz. Seit 17 Jahren wohnt die 53-Jährige im Sune-Egge, sie sei ein richtiges «Urgestein», lacht sie. Der Morgenkaffee gebe ihr eine Tagesstruktur. Manchmal trinke sie auch zwei Tassen, um sich dann wieder in ihr Zimmer zurückzuziehen. Dort schlafe sie nochmals ein oder schreibe Gedichte, male Mandalas.

Bewusst per Du

Küchenchef Marc Huber beobachtet die Szene von der offenen Theke aus. Er hilft Jon, der sich jetzt beim Automaten mit zittrigen Händen einen Kaffee rauslassen will, die Tasse ruhig zu halten. Sein Job sei weit mehr als kochen, sagt er. Er habe persönliche Beziehungen zu den meisten Patienten, gehe wenn möglich auf ihre Sonderwünsche ein – etwa als er kürzlich zu Charlys Geburtstag Cordon bleu servierte.

Die Frühschicht in der Spitalküche beginnt um 5.30 Uhr. Bei der Zubereitung der Mahlzeiten gebe es viele Dinge zu beachten, so dürfe das Brot beispielsweise wegen der schlechten Zähne vieler Bewohnerinnen und Bewohner nicht zu hart sein, die Butter gehöre frühzeitig aus dem Kühlschrank, damit sie streichfähig sei. Allgemein soll das Essen nachhaltig und gesund sein und wenig Zusatzstoffe enthalten, sagt Marc und zeigt auf die selbst gemachten Pizzateige, die auf einem Tisch bereitliegen, derweil auf dem Herd in weiten Töpfen der frisch zubereitete Sugo köchelt.

Mittlerweile ist es 7 Uhr. Drei Etagen weiter oben im Sitzungszimmer steht Gerhild Thiepold vor einer Magnettafel mit dem komplexen Dienstplan. Sie koordiniert die Einsätze für den Tag, schiebt Magnete mit Namen hin und her.

Seit fast sieben Jahren arbeitet die leitende Pflegerin im Sune-Egge. «Ich mag den Morgen, weil mich alle herzlich begrüssen», sagt sie. Im von Pfarrer Ernst Sieber 1989 gegründeten Spital für Suchtabhängige sind alle per Du, jeder Einzelne sei wichtig, ob Arzt oder Reinigungskraft. «Diese Kultur leben wir bewusst.»

Das tägliche Briefing findet dann um 8.30 Uhr statt, die ganze Belegschaft nimmt daran teil, diensthabender Arzt oder Ärztin, Pflegende, Sozialdienst, Seelsorge, Freiwillige. Wie war die Nacht? Was steht an? Wer hat welche Bedürfnisse?

Kein Druck auf Schwerstkranke

Nachtschwester Evelyn Zuber betritt den Raum. Ihre Schicht ist bald zu Ende. Sie übergibt an Gerhild und informiert sie über eine Patientin, die in der Nacht Magenkrämpfe hatte, heute aber trotzdem ihre Mutter besuchen wolle. In der Hand hält sie eine halb leere Wodkaflasche. «Einige brauchen auch in der Nacht oder am frühen Morgen Alkohol», sagt Evelyn. «Auf Schwerstkranke üben wir keinen Druck aus, sie von der Flasche wegzubringen. Wir umsorgen sie, schauen, dass sie möglichst keine Schmerzen haben.»

Die Morgenstunden seien besonders intensiv, ab 6 Uhr erhalten die stationären Patientinnen und Patienten Methadon und andere Opioide als Heroinersatz. Auch jene, die von der Gasse kommen, wie etwa jener Mann vor dem Eingang. Viele Menschen brauchen medizinische Versorgung. Offene Wunden und Infekte gehören im Akutspital zur Tagesordnung. Und dann gibt es noch ein Morgenritual: Um 6 Uhr bekommen die Patientinnen und Patienten ein Joghurt zur Stärkung.

Im Sune-Egge sei vieles ein bisschen anders. «Unsere Patienten sind häufig nachtaktiv», sagt Evelyn. Das komme von ihrer oft langjährigen Obdachlosigkeit. In der Nacht müssten sie wachsam sein, dass sie nicht beklaut oder überfallen werden. «Bei Sonnenschein fühlen sie sich sicherer beim Schlafen.»

Am frühen Morgen brauche es ein offenes Ohr. «Die Gedanken können dann besonders schwer sein», sagt Andreas Käser, Leiter der Seelsorge. Die meisten trügen einen Riesenrucksack an Sorgen und Bedürfnissen mit sich herum. Sie seien krank, oft allein, was ihnen bei Tagesanbruch schmerzlich bewusst werde.

Manche stehen auch am Ende des Lebens, werden im Sune-Egge palliativ betreut. Wenn im Aufenthaltsraum eine Kerze brennt, ist jemand gestorben. «Glaube, Liebe, Hoffnung», das sei das Fundament seiner Arbeit, sagt Andreas Käser.

Das Licht der Welt

Doch natürlich bringe der Morgen nicht nur Sorgen mit sich, sagt der Seelsorger. Ein anbrechender Tag bringe auch die Kraft, tätig zu werden. Viele hätten durchaus noch eine Perspektive. Sie wollten eine eigene Wohnung, künstlerisch tätig sein oder einen Entzug machen.

«Immer wieder passieren kleine Wunder», erzählt der Theologe und zitiert einen Bibelvers, der davon berichtet, wie Jesus einen Blinden heilt: «Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt» (Joh 9,4–5).

Am runden Tisch haben sich unterdessen ein paar Patienten mehr eingefunden. An jedem Donnerstagabend hält Andreas Käser am sozialen Mittelpunkt im Haus eine Andacht. Als er davon erzählt, fragt Iris unvermittelt in die Runde: «Wer glaubt an Gott?» und schiebt sogleich nach: «Ich glaube an eine höhere Macht.»

Das Geräusch der Kaffeemaschine durchbricht die eingetretene Stille. Jetzt steht Charly auf. Er geht zum Fenster hin, zieht den Vorhang zur Seite und lässt den neuen Tag herein.