Recherche 23. Juni 2021, von Katharina Kilchenmann

Mitten in einem Krieg, den nur wenige wollen

Friedensdorf

In Newe Schalom/Wahat al-Salam leben jüdische und palästinensische Israelis zusammen. Konflikte werden hier ausdiskutiert.

Die Menschen im Heiligen Land haben schlimme Tage und Nächte hinter sich. Immer wieder mussten sie im Mai in ihre Luftschutzräume flüchten, um sich vor Raketen in ­Sicherheit zu bringen. Häuser wurden zerstört, über 200 Tote gab es auf palästinensischer, zehn auf israelischer Seite. Hunderte Verletzte – Zivilisten und Kämpfer – wurden in den Spitälern gepflegt. «Es herrschte Krieg», betont Evi Guggenheim Shbeta, die in der arabisch-jüdischen Dorfgemeinschaft Newe Schalom/Wahat al-Salam lebt. «Alle hatten wir Angst: Erwachsene, Kinder, Israelis und Palästinenser.

Vor nahezu 40 Jahren ist die Zürcherin aus einer jüdischen Familie nach Israel ausgewandert. Zusammen mit ihrem Mann, einem Palästinenser, gehört sie zu den Gründe­rinnen der «Oase des Friedens». Eine ihrer inzwischen erwachsenen Töch­ter lebt in Tel Aviv.  «Wir machten uns grosse Sorgen um sie», berichtet Guggenheim Shbeta. «Bei uns in der Siedlung war die Gefahr nicht ganz so akut wie in den grossen Städten.» Trotzdem sei die Anspannung bei den rund 300 Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes während der Bombardements mit jedem Tag gestiegen. Und der Ton im Dorf-Chat sei ungewohnt rau geworden. «Sarkasmus und Sticheleien nahmen zu. Da wussten wir: Jetzt braucht es dringend eine Dorfversammlung.»

Gemeinsam als Nachbarn

Rund 100 Leute kamen, erzählten von ihren Nöten, hörten einander zu und versuchten zu ver­stehen. Das sei nicht immer einfach, weiss Evi Guggenheim Shbeta, beide Seiten fühlten sich als Opfer. «Wobei wir uns hier in Newe Schalom/Wahat al-Salam sehr wohl bewusst sind: Gegenüber den Palästinensern sind wir Israelis die ­Stärkeren.»

Wir leben in einem permanenten nationalen Alarm­zustand.
Evi Guggenheim Shbeta, Friedensaktivistin

Doch viel mehr als die Politik zäh­le das Zusammenleben als Nachbarn, das Verbundensein durch die Kinder, die dieselbe Schule besuchen, der gemeinsame Alltag, die Freundschaften. «Das ist der Nährboden für Empathie und Verständnis, auch wenn man nicht mit allem einverstanden ist.» Krieg wolle hier niemand. «Es sind Extremisten und Politiker auf beiden Seiten, die den jahrzehntelangen Konflikt nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen.»

Leben im Alarmzustand

Die meisten Menschen in Palästina und in Israel sind müde von der steten Eskalationsgefahr. Als Psychotherapeutin weiss Guggenheim Shbeta, was traumatische Erfahrun­gen auslösen können. «Wer Todesangst, Gewalt oder Verlust erlebt hat – und das haben hierzulande viele –, ist oft in ständiger Habachtstellung, immer am Abchecken, wo die nächste Gefahr lauert.» Was für das Individuum gelte, gelte ebenso für die ganze Nation. «Wir leben in einem permanenten nationalen Alarm­zustand. Deshalb genügt ein kleiner Funke, um das Pulverfass zum Explodieren zu bringen.»

Evi Guggenheim Shbeta ist überzeugt, dass der Konflikt mit Gewalt nicht zu lösen ist. Nur wer Andersgläubige nicht reflexartig als Feinde sehe, könne ein entspanntes Klima schaffen. «Deshalb ist die Friedensarbeit, die wir hier im Dorf leisten, so wichtig.» 

«Oase des Friedens»

Newe Schalom/Wahat al-Salam liegt zwischen Tel Aviv und Jerusalem und wurde in den frühen 1970ern gegründet. Im «Dorf des Friedens» teilen Juden und Palästinenser Alltag, Befugnisse und Administration. In den verschiedenen friedenspädago­gischen Institutionen des Dorfes werden Menschen aus der Region zu «Change Agents» ausgebildet.
www.nswas.ch

Nur wer Anders­gläu­bige nicht reflexartig als Feinde sieht, kann ein entspanntes Klima schaffen.
Evi Guggenheim Shbeta, Psychotherapeutin und Friedensaktivistin