Politisierende Kirche: Erinnerungen an kämpferische Zeiten

Politik

Da hat die Kirche zu schweigen: Diese Ansicht wird wieder lauter vertreten. Der Theologe Klaus Bäumlin sagt, warum das immer wieder gefordert wird und doch nicht geht.

Das Bild der orangen Transparente an Kirchtürmen bleibt haften. Im vergangenen Jahr setzten sich im ganzen Land Kirchgemeinden für die Konzernverantwortungsinitiative ein. Das war vielen zu viel. Politische Vorstösse und Beschwerden bis ans Bundesgericht folgten. Im Juni etwa lehnte das St. Galler Kantonsparlament eine Motion ab, die Kirchen zur Neutralität bei Abstimmungen hätte verpflichten wollen.

Fazit: Die Frage, wie sich die Kirchen politisch äussern sollen, können, müssen oder dürfen, wird wieder engagiert diskutiert. Wieder, denn ein Blick zurück zeigt: Neu ist das nicht. Selbst die Beteiligten sind mitunter die gleichen wie zum Beispiel vor bald 40 Jahren. Besonders aktiv war damals die «Aktion Kirche wohin?». Anfang 1980 gegründet, zählte sie bereits sieben Jahre später 4816 Aktiv- und 4189 Gönnermitglieder. Nebst dem 29-köpfigen Zentralvorstand mit drei Theologen amtete ein Patronatskomitee, unter anderem auch mit Nationalrat Christoph Blocher (SVP).

«Heuchlerische Stimmen»

Und gerade dieser Pfarrerssohn und Milliardär kommentierte als Verleger auch im vergangenen November in vielen der 31 Gratiszeitungen des Verlags Swiss Regiomedia unter dem Titel «Politisierende Kirchen»: Jesus sei nicht nur für die Armen, sondern auch für die «Nichtarmen» unterwegs gewesen. Es brauche die «heuchlerischen Stimmen» von politisierenden Pfarrpersonen nicht.Er rate den Kirchenvertretern, sich auf die Auslegung von Gottes Wort zu beschränken.

Die «Aktion Kirche wohin?» hatte 40 Jahre zuvor noch einen Zacken schärfer agiert. Der Berner Theologe und Ehrendoktor Klaus Bäumlin erlebte die Angriffe als Chefredaktor des «Saemanns» – dem Vorläufer von «reformiert.» – unmittelbar. «Vor allem in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ging die Aktion gegen kirchliche Hilfswerke, Institutionen und Funktionäre vor, unter anderem mit Inseraten wie ‹Tod für Brüder› als Verhunzung des Hilfswerks Brot für Brüder», sagt Bäumlin. Das Hauptinstrument der Aktion waren jedoch Rundbriefe, die auch als Leserbriefvorlagen dienten. 

Die Diskussion ist grundsätzlich immer wieder gleich: Wie soll sich die Kirche aufgrund der Bibel zu konkreten politischen Fragen äussern?
Klaus Bäumlin, Theologe

Die scharfe Kritik sei indes nicht von den Kirchen selbst gekommen, sondern von aussen, sagt Bäumlin. Sie richtete sich vorab gegen die angeblich linke Ausrichtung kirchlichen Engagements. So behauptete die «Aktion Kirche wohin?», die Befreiungstheologie betreibe die totale Säkularisierung des Evangeliums und habe vor, die Kirche als völkerverbindende Institution zu zerschlagen und dem Kommunismus das Feld zu bereiten. «Die Mitglieder der Aktion hatten nicht zur Kenntnis genommen, dass die Befreiungstheologie in Südamerika gerade aufgrund der biblischen Botschaft entstanden ist», so Bäumlin.

Karl Barth missbraucht

Auch in Bezug auf Karl Barth habe sich die Aktion über die Wahrheit hinweggesetzt. Immer wieder mal berief sie sich bei ihren Argumenten auf den berühmten Schweizer Theologen. «Aber sie riss die Zitate völlig aus dem Zusammenhang und verlieh ihnen inhaltlich manchmal einen gegensätzlichen Sinn», hält Klaus Bäumlin fest.

Insgesamt ist die «Aktion Kirche wohin?» so weit gegangen, dass die Arbeitsgemeinschaft der Deutschschweizer Kirchenboten beschloss, etwas zu unternehmen. Ein Arbeitskreis kirchlicher Publizisten stellte schliesslich ein Büchlein zusammen mit dem Untertitel «Kritische Auseinandersetzung mit einem kämpferischen Verein». Redaktionell beteiligt waren nebst Bäumlin je eine Vertretung des Kirchenbundes, des Zürcher und Aargauer «Kirchenboten», des Christlichen Friedensdientes, der Zeitschrift «Zoom» sowie der Fernsehbeauftragte der reformierten Kirchen.

Einsicht bei den Kritikern

Das 1989 publizierte Büchlein mit einem Vorwort des Präsidenten des Kirchenbundes hatte Erfolg, bilanziert Klaus Bäumlin: «Die Schrift schlug bei der Aktion schwer ein. Diese trat danach kaum mehr in Erscheinung, sie wurde quasi marginal.» Jahre später wurde er von der Nachfolgeorganisation der Aktion um ein Exemplar fürs Archiv angefragt. «Im Dankesbrief dafür hiess es dann, ihnen sei bewusst, dass sie damals zu weit gegangen waren», sagt Bäumlin.

War denn aber nichts dran an der Kritik der «Aktion Kirche wohin?»? «Doch, auch innerhalb der Kirche waren politische Stellungnahmen und Aktionen kirch­licher Exponenten und Hilfswerke durchaus nicht unbestritten», hält Klaus Bäumlin, ohne zu zögern, fest. In der Entgegnungsschrift wird den Kirchgemeinden denn auch empfohlen, auf Kritik einzugehen. «Eine offene und faire Auseinandersetzung könnte unserer Kirche nur guttun», heisst es etwa. Und es folgen Tipps, wie kirchliche Verantwortliche das umsetzen könnten, beispielsweise mit Diskussionen.

Kirchen müssen entscheiden

Heute sieht der Theologe die Kritik stärker kirchenintern verankert. Auch Bäumlin selbst ist nicht immer begeistert: «Ich hätte etwa dem verbreiteten Aushängen von grossen Plakaten an Kirchen nicht zugestimmt. Argumente sind besser als Plakate.» Doch die immer wieder geäusserte Forderung, Kirche und Politik strikt zu trennen, sei nicht umsetzbar. Kirchen müssten sich immer entscheiden: Was ist nach gründlicher Prüfung biblisch begründet zu einem Thema zu sagen, möglichst auch unter Einbezug der Erfahrung betroffener Menschen? «Letztlich ist die Diskussion grundsätzlich immer wieder gleich: Wie soll sich die Kirche aufgrund der Bibel zu konkreten politischen Fragen äussern?», bringt es der Theologe auf den Punkt.