Recherche 09. August 2023, von Felix Reich

Was die Kirche vom Kino lernen kann

Kultur

Die Kirche sucht ihren Platz am Zurich Film Festival. Mit «Foudre» zeichnet ihre Jury ein bildstarkes Drama aus, das von der Befreiung aus dem religiösen Korsett erzählt.

Die Glitzerwelt am Zurich Film Festival (ZFF) bietet den Landeskirchen die Möglichkeit, die eigene Komfortzone zu verlassen. Sie werden mit Religionskritik, zuweilen auch mit Zerrbildern des Glaubens konfrontiert. Zugleich kann die Kirche sich auf einer Bühne präsentieren, zu der sie selten Zugang hat.

Allerdings ist der Kampf um das Scheinwerferlicht Knochenarbeit. Das sagt Andrea Bianca. Der Pfarrer und Kirchenrat der reformierten Landeskirche sitzt in der Jury, die den Filmpreis der Zürcher Kirchen vergibt. Die Auszeichnung ist mit 10 000 Franken dotiert, insgesamt lassen sich die Kirchen ihren Auftritt 70 000 Franken kosten. Das sei eine hohe Summe, «die sich nur rechtfertigen lässt, wenn die Kirche dafür Anerkennung und Aufmerksamkeit erhält», betont Bianca. Mit der Öffentlichkeitswirksamkeit des Preises ist er noch nicht zufrieden. «Wer von ihm weiss, findet ihn gut, aber noch kennen ihn zu wenige.»

Die Kirche im Kino

Das 18. Zurich Film Festival fand vom 22. September bis zum 2. Oktober statt und verzeichnete 137 000 Besucherinnen und Besucher. Seit 2017 vergeben die reformierte und die katholische Kirche den «Filmpreis der Zürcher Kirchen». Erstmals sprach die ökumenische Jury eine «besondere Erwähnung» aus. Der Film «Holydays» zeigt den säkularisierten Feiertagen entlang die «durch Gewalt geprägten Lebensumstände» in Russland.

Dass die Jury «Foudre» wählte, ist auf den ersten Blick mutig, aber eigentlich ziemlich logisch. Sie zeigte wiederholt eine Vorliebe für Filme, die sich mit dem Erwachsenwerden auseinandersetzen. «Die Frage, wie Menschen nicht einfach nur er- wachsen werden, sondern wirklich zu sich kommen, indem sie sich auch gegen Widerstände durchsetzen, ist ein urchristliches Thema», sagt Bianca. Darüber hinaus setzt sich das Drama der Genfer Regisseurin Carmen Jacquier ganz explizit mit der Religion auseinander.

Die Lust am Schmerz

Ihr erster Langspielfilm erzählt von einer jungen Frau, die um 1900 aus dem Klosterdienst entlassen und von ihrer Familie zurück in ein Walliser Bergdorf beordert wird, nachdem ihre Schwester einen mysteriösen Tod gestorben ist. Der zähe Kampf für die innere Freiheit und gegen das Joch des Katholizismus beginnt damit jedoch erst richtig.

Die Ambivalenz von Lust und Schmerz, Ekstase und Kasteiung bleibt freilich auch nach dem Ablegen des kirchlichen Korsetts dominant. Im Verlassen der ausgetretenen Pfade religiöser Rituale und ihrem Ausbruch aus der körperfeindlichen Sexualmoral der Kirchenlehre erlebe die Protagonistin etwas, «was ich als echtes Gottvertrauen bezeichnen möchte», erklärt Jurypräsident Tobias Grimbacher.

Maximal absehbar

Neben dem Synodalrat der katholischen Kirche des Kantons Zürich und Kirchenrat Bianca begutachteten die Schauspielerin Tonia Maria Zindel, die Theologin und Journalistin Brigitta Rotach sowie die Regisseurin Fiona Ziegler die 14 Filme, die in der Fokus-Reihe gezeigt wurden. Auch die Festivaljury würdigte «Foudre» mit einer «lobenden Erwähnung». Und die Schweiz schickt den Film nun ins Rennen um den Oscar für den besten internationalen Film. Im August 2023 wurde bekannt, dass der Film als Schweizer Beitrag ins Oscar-Rennen steigt.

Handwerklich überzeugt der Siegerfilm, dennoch ist das Drehbuch an Überraschungsfreiheit kaum zu überbieten. Und die Grenzen zwischen existenziellem Drama und pathetischem Kitsch sind im grossartig gefilmten, textlich aber zuweilen unbeholfenen Werk fliessend.

Erzählen und verwandeln

Wichtig sei, dass ein Film Debatten auslöse und nachwirke, sagt Bianca. Diese Kriterien erfüllt «Foudre». Und wenn sich die Kirche ins Gespräch bringen, vom Kino als Ort des Erzählens und der Verwandlung lernen kann, behält ihr Filmpreis seine Berechtigung.