Recherche 15. Oktober 2021, von Nadja Ehrbar

Ein Heim wird zur Ersatzfamilie

Kultur

Fred Baillif gewinnt mit «La Mif» den Filmpreis der Zürcher Kirchen. Sein Sozialdrama zeigt eine Schicksalsgemeinschaft junger Frauen.

Der Genfer Regisseur Fred Baillif habe es geschafft, das Publikum in eine Welt mitzunehmen, «die wir im Alltag nicht sehen», sagte Lucie Bader. Die Filmdozentin hat die Jury präsidiert, die «La Mif» (umgangssprachlich für Familie) den mit 10 000 Franken dotierten Filmpreis der Zürcher Kirchen zugesprochen hat. Zwölf Filme aus der Reihe «Fokus: Schweiz, Österreich und Deutschland» standen am Zurich Film Festival zur Wahl. 

Der 48-jährige Baillif zeigt in seinem Sozialdrama, wie sieben junge Frauen in einem Mädchenheim zur Schicksalsgemeinschaft werden. In Einzelporträts, die wie ein roter Faden durch die Geschichte führen, zeichnet er ihren Lebens- und Leidensweg nach, in dem auch sexueller Missbrauch vorkommt. Am meisten gelitten haben die Frauen unter dem Schweigen jener, die von den Missbräuchen wussten, aber nichts sagten. Das Heim wird zur Ersatz-familie. Es bietet Schutz und Geborgenheit, doch Konflikte sind natürlich ebenso unvermeidlich. 

Die emotionale Ehrlichkeit habe die Jury berührt, sagte Medien- und Religionswissenschaftlerin Marie-Therese Mäder in ihrer Laudatio. «Der Film gibt den Frauen Sichtbarkeit und hebt die Wichtigkeit solcher Institutionen in unserer Gesellschaft hervor.»

Beeindruckt hat mich das Bild von Gemeinschaft, das dieser Film zeichnet.
Andrea Marco Bianca, Kirchenrat

Für Kirchenrat und Jurymitglied Andrea Marco Bianca muss ein Film einen Bezug zu christlichen Werten herstellen, damit er in den Augen der Kirchen einen Preis verdient hat. «Beeindruckt hat mich das Bild von Gemeinschaft, das dieser Film zeichnet», sagt er. Auch eine solche «Familie» sei eine Keimzelle der Gesellschaft. Und für eine Gemeinschaft zu sorgen, sei ein wichtiger christlicher Wert. 

Der Film fordere die Kirchen zudem dazu auf, sich zu überlegen, was für eine Institution sie sein wollten. Es gehe nicht nur darum, von der hohen Kanzel zu predigen, sondern eben auch, hinzuschauen, zuzuhören und Anteil zu nehmen.

Schritt aus dem Schatten

Es ist das fünfte Mal, dass die Kirchen den Preis verliehen haben. Statt mehrere kleine Filmprojekte im Verborgenen zu unterstützen, entschieden sie 2017, sich auf dem grünen Teppich zu präsentieren. Diese Präsenz bleibe wichtig, sagt Bianca: «Je mehr die Leute davon erfahren, desto besser.»  

Den bisher prämierten Spielfilmen wie etwa «Sami, Joe und ich» von Karin Heberlein oder «Blue My Mind» von Lisa Brühlmann gelinge nämlich das, worum es der Kirche gehe: Werte zu vermitteln. In «La Mif» zeigt sich dies für Bianca in den Szenen, in denen sich zwei zuerst streiten, sich danach in den Arm neh-men, einander verzeihen. 

Je 70 000 Franken lassen sich die beiden Landeskirchen die Verleihung kosten. «Wenn der Film bei den Zuschauern etwas auslöst und sie das weitererzählen, haben wir schon viel erreicht», ist Kirchenrat Bianca überzeugt.