Recherche 07. Oktober 2020, von Felix Reich

Weshalb die Kirche ans Filmfestival gehört

Kultur

Kirchenrat Andrea Bianca sass in der kirchlichen Jury am Zurich Film Festival. Er sagt, warum der Siegerfilm den Preis verdient und was gegen negative Religionsklischees hilft.

Die Kirche wollte mit ihrem Filmpreis, den sie am ZFF zum vierten Mal vergeben hat, Menschen und Lebenswelten erreichen, an die sie mit ihren bisherigen Angeboten nicht herankommt. Wurde das Ziel erreicht?

Andrea Bianca: An den Publikumsanlässen des Festivals erhielten wir sehr positive Rückmeldungen. Die Präsenz der Kirchen wird geschätzt. Doch es braucht Beharrlichkeit, um sich als Kirche an einem Filmfestival zu etablieren. Da sehe ich eine positive Entwicklung. Die Reihe Fokus, die Filme aus der Schweiz, Deutschland und Österreich zeigt und aus der die kirchliche Jury auswählen darf, wurde aufgewertet. Es ist spürbar, dass der neue künstlerische Leiter Christian Jungen kirchlich interessiert ist. Für die Breitenwirkung über das Festival hinaus ist die Medienarbeit entscheidend. Diese ist in jedem Jahr eine neue Herausforderung.

Die reformierte Kirche und die katholische Kirche lassen sich ihren Preis jährlich rund 70'000 Franken kosten. Ist das Geld gut investiert?

Es ist ein namhafter Betrag. Der Kirchenrat prüft jedes Jahr kritisch, ob er die Mittel weiterhin bereitstellen will. Wenn es uns mit dem Filmpreis gelingt, Menschen über traditionelle kirchliche Lebenswelten hinaus anzusprechen, ist das Geld aber gut investiert. Eine Imagekampagne wäre teurer. Zudem ist der Preis auch Kulturförderung. Der Siegerfilm erhält 10'000 Franken, das Filmfestival ist für die Stadt Zürich und den Schweizer Film wichtig.

Filmförderung gehört nicht zu den Kernaufgaben der Kirche.

Mit Blick auf klassische Kirchenmusik betreibt die Kirche sehr viel Kulturförderung. Setzt man das Engagement am Filmfestival in Relation zu den Geldern, die dafür ausgegeben werden, ist der Beitrag relativ bescheiden.

Wie es dem Siegerfilm gelingt, ein hoffnungsvolles, offenes Ende zu finden, ohne in Klischees abzugleiten, hat mich berührt und überzeugt.

Als der Siegerfilm «Sami, Joe und ich» an der Verleihung am 2. Oktober gewürdigt wurde, lobte die Jury die Schauspielerinnenführung, den Einsatz der Musik. Um solche Qualitäten anzuerkennen, braucht es keine kirchliche Jury.

Wir haben den Anspruch, nur Filme auszuzeichnen, die künstlerisch und handwerklich überzeugen. Gleichzeitig muss ein Film auch eine religiöse Relevanz haben. Aber Voraussetzung für eine Prämierung ist, dass er eine filmtechnische Qualität hat.

Gab es auch kirchliche, theologische Gründe, um diesen Film zu ehren?

Ja. Der Film spielt da, wo die Kirche sein will: mitten im Alltagsleben. Er zeigt, wie drei Schulabgängerinnen ihren Platz im Leben suchen. Diese Lebensphase ist für die Kirche sehr wichtig, werden doch Jugendliche in diesem Alter konfirmiert. Für die Jugendarbeit ist der Film interessant. Er erzählt trotz aller Brüche und Katastrophen drei Hoffnungsgeschichten. Wie es ihm gelingt, ein hoffnungsvolles, offenes Ende zu finden, ohne in Klischees abzugleiten, hat mich berührt und überzeugt. «Behalte mehr Träume in deiner Seele, als die Realität zerstören kann»: Dieses Leitmotiv des Films ist durchaus eine theologische Aussage.

Holzschnittartig sind hingegen die Männerfiguren gezeichnet. Es gibt den verführerischen Verführer, einen fiesen und einen lieben Bruder. Den Bösen sieht man ihre Bosheit immer an.

Im Zentrum stehen die drei jungen Frauen, die differenziert gezeichnet sind. Die tatsächlich etwas klischiert gezeigten Männerfiguren verstärken den Gleichnis-Charakter des Films, der von der Kraft der Freundschaft erzählt und dem Willen der jungen Frauen, für ihre Selbstbestimmung zu kämpfen.

Einmal poppt die Glaubensfrage auf. «Woran glaubst du?» wird Sami in einem Chat gefragt. Doch die Frage ist nichts weiter als das Eingangstor in die Abhängigkeit von radikalen Islamisten, die Sami für den Jihad gewinnen wollen.

Wenn die Kirche einen Film auszeichnet, kann es nicht darum gehen, dass im Film eine Pfarrerin vorkommt oder explizit über den Glauben diskutiert wird. Die Masche der Extremisten, die vorgaukeln, verfolgten Menschen helfen zu wollen, wird glaubwürdig gezeigt. 

Wenn Religion einzig als negatives Klischee aufgenommen wird, müssen wir das als Kirche bewusst zur Kenntnis nehmen.

Auch in Religionsfragen bleiben die Rollen klar verteilt: Der Islam ist böse.

Der Islam wird nicht thematisiert. Der Film will zeigen, wie junge Menschen radikalisiert werden und keine Religion an den Pranger stellen.

Der Islam wird nicht genannt, und trotzdem wissen alle, wer gemeint ist.

Es gab einen anderen Film in der Reihe, der für mich in seiner plumpen Islamdarstellung zu weit ging. Gegen einen solchen Juryentscheid hätte ich mich gewehrt.

Es geht ja nicht nur um den Islam. Religion und Glauben kommen in «Sami, Joe und ich» ausschliesslich als Negativklischees vor. Dabei hätte die Frage, woran die Protagonistinnen glauben, doch viel erzählerisches Potenzial gehabt.

Da hat das Drehbuch vielleicht eine Chance verpasst. Aber wir können nur fertige Filme auszeichnen. Wenn Religion einzig als negatives Klischee aufgenommen wird, müssen wir das als Kirche bewusst zur Kenntnis nehmen. Vielleicht kann unsere Präsenz am Filmfestival helfen, solche Vorurteile aufzuweichen, indem wir uns auf einen kritischen Dialog einlassen.

Sind Sie eigentlich froh, dass sich in der Fokus-Reihe kein Film sich explizit mit Religion oder Spiritualität auseinandergesetzt hat? Die Jury wäre um diesen Film quasi nicht herumgekommen.

Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Filme mit religiösen Themen beschäftigen würden. Es wäre ein Gewinn, wenn Filmschaffende sich in einer lebensverwobenen Art mit dem Glauben befassen würden. Ein wichtiges Kriterium ist für mich, ob es einem Film gelingt, ohne Moralisierung eine ethische, spirituelle Dimension einzubeziehen. Das ist dem Siegerfilm insgesamt gut gelungen. Und es freut mich, dass er neben dem Preis der Kirchen auch den Publikumspreis gewonnen hat. Das zeigt, dass die Kirche hier nahe bei den Leuten ist.

Andrea Marco Bianca (59)

Andrea Marco Bianca (59)

Zusammen mit Lucie Bader, Simone Späni, Tobias Grimbacher und Thomas Binotto war Andrea Bianca Mitglied der Jury des Filmpreises der Zürcher Kirchen am Zurich Film Festival, der von der katholischen und der reformierten Kirche finanziert wird. Bianca ist seit 2007 Kirchenrat der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und dort zuständig für das Ressort Mitgliedschaft und Lebenswelten. Er ist Pfarrer in Küsnacht. In der Filmpreis-Jury sass Bianca zum dritten Mal. Der ausgezeichnete Film von Karin Heberlein (Buch und Regie) lebt insbesondere von der Präsenz der Hauptdarstellerinnen Anja Gada, Rabea Lüthi und Jana Sekulovska.