Recherche 12. Oktober 2017, von Felix Reich

«Ein drastischer Film, der aufrüttelt»

Kultur

Ein aufwühlendes Teenagerporträt gewinnt den Preis der ökumenischen Jury am «Zurich Film Festival».

«Mutig» nennt Bernhard Egg den Entscheid der Jury, «Blue My Mind» mit dem Filmpreis der Zürcher Kirchen auszuzeichnen. Der Kirchenrat muss es wissen. Denn er sass in der ökumenisch zusammengesetzten Jury, die am «Zurich Film Festival» zwölf Beiträge aus der Kategorie «Fokus: Schweiz, Deutschland und Österreich» begutachtet hatte.

Der Erstling von Lisa Brühlmann sei ein «drastischer Film, der aufrüttelt», sagt Egg. Er behandle Fragen, die auch die Kirche intensiv beschäftigen: Wie Jugendliche ihren Platz in der Gesellschaft finden können, Gruppendruck, überforderte Eltern.

Das Monster Pubertät. Vier Jahre hat die Schauspielerin und Regisseurin Lisa Brühlmann an ihrem Film gearbeitet. Zuerst war sie überrascht, dass ausgerechnet sie den Preis der Kirchen gewinnt. Neben der künstlerischen Qualität wollte die Jury am 5. Oktober «die biblische Sichtweise und die christliche Verantwortung» berücksichtigen. Inzwischen hat sich bei der 1981 geborenen Zürcherin die Überraschung relativiert. «Ich entdeckte im Rückblick, dass mein Film durchaus christliche Werte verhandelt.» Es gehe um Konflikte, Vergebung, den Leidensweg und die Liebe, die trotz allem trägt. «Ohnehin sind viele Filme von der Bibel inspiriert, weil sie einfach grossartige Geschichten erzählt.» Brühlmann holte mit ihrem Debüt auch den Festivalpreis ihrer Kategorie und den Kritikerpreis.

In «Blue My Mind» zieht Mia (grossartig: Luna Wedler) mit ihren Eltern in die gesichtslose Zürcher Agglomeration. Mit feinem Gespür zeigt Brühlmann, wie sich ihre Hauptfigur in der neuen Klasse zurechtzufinden sucht. Sie erzählt künstlerisch viel zu ambitioniert vom hohen Preis für das Dazugehören, von Euphorie und Absturz, Rausch und Leere, um in die Problemfilmfalle zu tappen. Solidarität und Liebe wachsen zaghaft, sind aber Lebensretter, wobei sie nur unter Freundinnen möglich werden, weil Sex auf ein Tauschgeschäft reduziert bleibt, das ohne Erniedrigung nicht zu haben ist. Diese unbeholfene, stets an den Rand der Gewalt driftende Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern schildert Brühlmann mit schmerzhafter Lakonie.

In Mias verstörender Verwandlung zur Meerjungfrau findet Brühlmann eine Metapher für die monströse Pubertät. Sie illustriert sie mit einprägsamen,klug komponierten Bildern. Eine Stärke des Films ist, dass die Metapher in kafkaesker Radikalität gesprengt und Wirklichkeit wird. So stellt sich ein Ende im Licht der Hoffnung ein ganz ohne Zuckerguss.

Vom Kino in die Kirche. Den mit 5000 Franken dotierten Preis vergaben die reformierte und die katholische Kirche in diesem Jahr erstmals. Der Auftritt auf dem grünen Teppich des Filmfestivals biete die Chance, ein Terrain zu besetzen, auf dem die Kirche kaum präsent sei, sagt Egg. Er plädiert dafür, am Filmpreis festzuhalten, um ihn zu etablieren.

Zu ihrer Wahl ist der Jury nur zu gratulieren. Lisa Brühlmann findet eine poetische Sprache für urchristliche Fragen nach Würde und Selbstverlust, einsame Verzweiflung und Beziehungsfähigkeit. Ge­lingt es, diese Themen über die Leinwand in die Kirche zu tragen, ist der Filmpreis mehr als Öffentlichkeitsarbeit. Dann zeigt sich, wie nahe sich Kunst und Glaube sind, wenn sie auf ihre je ganz eigene Art existenzielle Fragen verhandeln.

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