Recherche 03. Februar 2022, von Felix Reich

«China verdient Respekt»

Sport

Wer China für Menschenrechtsverletzungen kritisiere, müsse zugleich seine Erfolge im Kampf gegen den Hunger loben, sagt der China-Kenner und Theologe Christoph Stückelberger.

Das Olympische Komitee betont gerne das Völkerverbindende des Sports in Abgrenzung zur Politik. Gibt es überhaupt unpolitische Spiele?

Christoph Stückelberger: Alle sportlichen Grossereignisse werden von Regierungen zur Eigenwerbung genutzt. Wer eine gegnerische Position vertritt, nutzt die Spiele als Plattform für Kritik oder droht gar mit dem Boykott. Doch aus ethischer Sicht sollten olympische Spiele so weit als möglich entpolitisiert werden. 

Wer nach China geht und die Inszenierung still über sich ergehen lässt, gibt mit seinem Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen doch auch ein Statement ab. 

Der Einwand ist berechtigt: Man kann nicht nicht politisch sein. Doch die Ausdrucksmittel können verschieden sein. Natürlich gilt es Chinas Umgang mit den Uiguren, die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die Fussball WM in Katar oder die Menschenrechtslage in Russland zu kritisieren. Aber Boykotte führen zur Eskalation. Die entscheidende Frage ist: Was trägt zur Deeskalation bei? Das kann nur das Gespräch. Deshalb unterrichte ich weiterhin an Universitäten in China, Russland oder Nigeria. 

Und es gibt keine Grenze, wo Sie sagen: «Unter diesen Bedingungen kann ich meine Lehrtätigkeit nicht mehr ausüben»?

Diese Grenze gibt es natürlich. Sie liegt da, wo der Maulkorb zu einschränkend wirkt. 

In China sitzt der Maulkorb noch locker genug?

Die Einschränkungen haben zugenommen in den letzten drei Jahren. Ich bin jetzt seit etwa 25 Jahren regelmässig in China. Zu Beginn konnte man sich ohne einen Übersetzer, der zugleich ein Aufpasser der Regierung war, mit niemandem unterhalten. Später gab es eine Zeit relativer Offenheit, wo die Kontrolle weniger engmaschig und viel Freiheit möglich war. Inzwischen hat die Angst, dass regierungskritische Äusserungen direkt an die Behörden rapportiert werden, wieder zugenommen. Dennoch ist ein akademischer Diskurs möglich, auch an der Uno in Genf können wir mit chinesischen Nichtregierungsorganisationen Veranstaltungen zu heiklen Fragen abhalten.

Aber auch Nichtregierungsorganisationen stehen unter Beobachtung.

Natürlich. Ich bin nicht naiv. Menschenrechtsverletzungen in China gilt es zu kritisieren. Das sollen Einzelne, das soll die Schweiz tun. Grundvoraussetzung für eine solche Kritik ist jedoch, dass das Gegenüber als gleichberechtigter Partner wahrgenommen wird. Es darf nicht darum gehen, einen Staat politisch und ökonomisch zu isolieren. Weil ich diesem Grundsatz nachlebe, habe ich bisher keine Probleme bekommen in China: Ich respektiere China, ich würdige die Leistung Chinas, also kann ich auch Kritik üben. 

Es fehlt an Respekt gegenüber China?

Im Kalten Krieg, der zurzeit zwischen den USA und China im Gange ist, ganz bestimmt. Darin geht es nur darum, den Andern in die Knie zu zwingen. Das sind schlechte Voraussetzungen für Menschenrechtskritik. Die amerikanische Überheblichkeit im Menschenrechtsdiskurs ist offensichtlich. 

China glänzt aber auch nicht mit Wertschätzung gegenüber anderen Staaten. 

Überheblich verhalten sich tatsächlich beide Seiten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. China beruft sich gerne auf seine fünftausendjährige Geschichte und fühlt sich anderen Kulturen überlegen. Allerdings gibt es auch in der kommunistischen Partei unterschiedliche Kräfte. Neben den Falken gibt es auch Funktionäre, die glaubwürdig eine multilaterale Welt anstreben, in der China zwar eine wichtige Rolle spielt, aber nicht den Anspruch hat, als Supermacht andere Staaten zu dominieren. 

Die Kontroverse

Aus Anlass der Olympischen Spiele in Peking befragte «reformiert.» zwei ausgewiesene Kenner Chinas. Beide sind Pfarrer und unterrichten an chinesischen Universitäten. Tobias Brandner hat eine Professur in Hongkong, Christoph Stückelberger lehrt an der Minzu-Universität in Peking. Ihre Beurteilung der Politik der kommunistischen Partei geht weit auseinander. Auch in der Debatte über die Einhaltung der Menschenrechte setzen sie ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Einig sind sich die Theologen jedoch darin, dass die Repression zugenommen hat, seit Xi Jinping die Macht übernommen hat, und auch die Christen in China stärker kontrolliert werden.

Was wäre denn der richtige Umgang mit China, wenn es um Menschenrechte geht?

Mich stört, dass der Menschenrechtsdiskurs in den 1950er Jahren steckengeblieben ist. Menschenrechte wurden damals prioritär als politische Rechte verstanden. Seither ist der Menschenrechtskatalog durch die Uno und die Europäische Menschenrechtskonvention ganz wesentlich erweitert worden mit den sozialen und wirtschaftlichen Rechten, die  aber kaum zur Sprache kommen. Es stimmt: Die Konzentrationslager, in denen Uiguren umerzogen werden sollen, lassen sich durch nichts rechtfertigen. Aber wir müssen nicht nur die politischen Rechte anschauen. In den USA gehen 13 Prozent der Bevölkerung jeden Abend hungrig zu Bett, in China, diesem riesigen Land, sind es nur 2 Prozent. Das Recht auf Nahrung wird in den USA somit viel stärker verletzt als in China. 

Der Kampf gegen Hunger und die Meinungsäusserungsfreiheit schliessen sich aus?

Die chinesische Regierung würde das bejahen. Sie argumentiert, dass die rasche Verbesserung der Ernährungssituation auf ihre starke politische Führung zurückzuführen sei. 

Und was sagen Sie?

Natürlich steckt in dieser Argumentation viel Ideologie. Doch ganz von der Hand zu weisen, ist sie nicht. Die chinesischen Anbauschlachten der letzten Jahrzehnte konnten auch dank weitreichender Kompetenzen der Zentralregierung erfolgreich umgesetzt werden. Es ist eindrücklich, wie ein derart bevölkerungsreicher Staat, der rund 20 Prozent der Weltbevölkerung ernährt, den Hunger besiegen konnte. Das ist ein Erfolg, der Anerkennung verdient. 

«Ihr könnt euch nicht frei äussern, aber dafür seid ihr satt»: Das ist doch eine denkbar zynische Regierungslogik?

Ich rechtfertige Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit nicht. Aber ich gehe so weit mit, als dass ich sage: Das Recht auf Nahrung ist das erste Menschenrecht. Ich habe das in einem Buch ethisch detailliert begründet. Es nützt einem Armen nichts, wenn er hungrig schlafen gehen muss, aber dafür abstimmen darf. In der Hierarchie der Menschenrechte stehen das Recht auf Nahrung und das Recht auf Arbeit beziehungsweise Einkommen ganz oben, weil sie zum Überleben notwendige Rechte sind. Das Recht auf politische Mitbestimmung ist auch sehr vital, weil es um unsere menschliche Würde geht. 

Durch eine solche Hierarchisierung erhalten Autokratien, die dem Wirtschaftswachstum alles unterordnen, ein Alibi. Aber Meinungsäusserungsfreiheit ist doch nicht einfach ein Luxus für Wohlstandsnationen. Die Angst, ins Gefängnis zu wandern oder gar gefoltert zu werden, nur weil man etwas gesagt hat, was der Regierung nicht passt, kann ähnlich quälend sein wie der Hunger.

Die Hierarchisierung der Menschenrechte, wie ich sie vertrete, liefert keinen Vorwand für Menschenrechtsverletzungen. Wir sind ja von der Frage ausgegangen, ob die Menschenrechtslage in China an den Spielen in Peking thematisiert werden soll. Mein Punkt ist: Der Menschenrechtsdiskurs wird einseitig geführt. Wenn die olympischen Spiele in Peking stattfinden, wird über Menschenrechtsverletzungen diskutiert. Aber wenn Sportanlässe in den USA stattfinden oder eine Fussball WM in Südafrika gespielt wird, tun alle so, als ob dort alles in Ordnung wäre. Dabei wird das Menschenrecht auf Nahrung grob verletzt. Gegen diese Schieflage, die einer politischen Instrumentalisierung der Menschenrechte gleichkommt, wehre ich mich. 

Alle europäischen Staaten schicken ihre Sportlerinnen und Sportler nach Peking. Viele hochrangige Diplomaten hingegen bleiben zu Hause. Haben Sie Verständnis dafür?

Ich halte die Chinapolitik der USA und in ihrem Windschatten auch vieler europäischer Staaten für unglaubwürdig. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock reist nicht nach Peking, aber die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China werden immer enger, weil sie für Deutschland unabdingbar sind. Es kostet nichts, die Aussenministerin in Berlin zu lassen. Aber die Produktionsstätten von Volkswagen, BMW und Mercedes in China zu schliessen, kann Deutschland sich schlicht nicht leisten. Sogar die Fabriken in den Uiguren-Gebieten produzieren munter weiter.

Was löst der diplomatische Boykott der Spiele in China aus?

Die chinesische Regierung ist sehr auf Reputation bedacht, deshalb reagiert sie sensibel auf Kritik. Sie wird sich auf diplomatischer Ebene irgendwann revanchieren. Um hier einen Aspekt der christlichen Ethik einzubringen: China ist zu sehr in der Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Logik gefangen. Vergebung hat kaum Platz. So etwas wie der Kniefall von Willy Brandt, der 1970 als deutscher Bundeskanzler Polen um Vergebung gebeten hat, wäre in Japan, China oder Korea bisher undenkbar. Entsprechend schlecht voran kommt der Versöhnungsprozess seit dem Zweiten Weltkrieg in Südostasien. 

Wie realistisch sind innenpolitische Reformen in China?

Vor 20 Jahren dachten viele, dass mit dem Wirtschaftswachstum auch Schritte in Richtung Demokratie sozusagen automatisch folgen werden. Da hat sicher eine Desillusionierung stattgefunden. Wobei mich die Polarisierung zwischen Demokratie und Autokratie stört. Viele Intellektuelle in China sagen mir, dass eine Demokratie nach westlichem Verständnis nicht der chinesischen Kultur entspricht. Auf kommunaler Ebene gibt es in China durchaus Mitbestimmungsrechte. China ist keine Autokratie. Es ist ein Einparteienstaat, aber gerade im zivilgesellschaftlichen Bereich gibt es unzählige Organisationen, die in Umweltfragen oder im Bildungsbereich relativ frei tätig sein können. Die chinesische Zivilgesellschaft empfinden wir als kontrolliert, aber ich erlebe sie zurzeit als freier als etwa die russische Zivilgesellschaft. 

Christoph Stückelberger

Christoph Stückelberger

Der Pfarrer Christoph Stückelberger ist Präsident und Gründer der Stiftung Globethics.net und Direktor der Agape-Stiftung in Genf. Er ist emeritierter Professor für systematische Theologie und Ethik in Basel und leitete von 1985 bis 1992 die Redaktion des Kirchenboten, der Vorgängerzeitung von «reformiert.». Stückelberger hat Lehraufträge an Universitäten in Enugu, Moskau sowie mehreren Universitäten in Peking.

Wie stark sind die Christen in China unter Druck?

Dass die Christen in China unterdrückt seien, stimmt in der oft geäusserten Generalität nicht. Gottesdienste finden statt, die kirchlichen Sozialdienste können ausgebaut werden. Die Kontrolle hat aber auch hier zugenommen. War ich früher in einem Gottesdienst zu Gast, wurde ich spontan nach vorne gebeten, um ein Grusswort zu sprechen oder ein Gebet. Heute sagen mir die Pfarrer, ich soll einfach still am Gottesdienst teilnehmen und zeigen auf die Kameras in der Kirche. 

Die kommunistische Führung hat Angst vor der Religion?

Im Kern geht es um die Machtfrage. Solange sich die Partei der Loyalität einer Religionsgemeinschaft sicher sein kann, gewährt sie relativ grossen Freiraum. Die christliche Gemeinschaft ist in den letzten Jahren aber stark gewachsen. Die Anzahl Christen nähert sich mit schätzungsweise 80 bis 100 Millionen Menschen der Zahl der Parteimitglieder. So wird eine Religionsgemeinschaft zur politischen Bedrohung, weil da eine potenzielle Konkurrenz heranwächst, sofern sie das Primat der Partei nicht anerkennt. 

Verstehen sich die Christen denn als politische Kraft?

Es gibt starke konfessionelle Unterschiede. Die katholische Kirche ist ja eigentlich sehr ähnlich organisiert wie der chinesische Einparteienstaat: Die Basis wird konsultiert, ein Bischof kann Einfluss ausüben in der Hierarchie, aber am Ende entscheidet die Kirchenspitze. Das ist auch in China so: Die Regierung hört durchaus auf die Bevölkerung, aber die Entscheide fallen in Peking. 

Dann können sich die Katholiken besser mit dem politischen System arrangieren, weil sie es aus ihrer Kirche kennen?

Erstaunlicherweise ist es umgekehrt. Abgesehen von den evangelikalen Gemeinden, die stark unter amerikanischem Einfluss stehen, können sich die Protestanten viel eher mit den politischen Verhältnissen abfinden. Das Christentum gibt ihnen eine von der Staatszugehörigkeit unabhängige Identität. Die Katholiken hingegen sehen Staat und Kirche stärker als Konkurrenz und stehen deshalb im Loyalitätskonflikt zwischen Peking und Rom. 

Was raten Sie einem Sportler, der in Peking von Journalisten auf die Menschenrechtslage angesprochen wird? 

Ich finde es richtig, wenn ein Sportler an den Spielen teilnimmt. Ich würde ihm raten zu sagen, dass er Kenntnis hat von den Menschenrechtsverletzungen in China und die Regierung bittet, diese abzubauen. Aber er soll im gleichen Atemzug auch darauf hinweisen, dass China elementare Menschenrechte vorbildlich achtet: das Recht auf Nahrung, das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung. 

Nur wer lobt, darf kritisieren?

Das ist doch in jedem Gastland so. Wenn ein chinesischer Gast in die Schweiz kommt und sagt: «Das Essen gefällt mir nicht, der Service war ungenügend, die Preise zu hoch.» Dann empfinden wir das als Affront und fragen uns, warum er überhaupt in die Schweiz gekommen ist. Wenn er hingegen sagt, die Berge seien wunderbar, die Züge pünktlich und die Infrastruktur tadellos, nur die Leute seien etwas zugeknöpft, dann können wir das viel leichter akzeptieren. 

Nur geht es in China nicht um die Pünktlichkeit der Züge, sondern um Dissidenten, die in Gefängnissen sitzen, oder um die uigurische Minderheit, die gewaltsam interniert wird.

Natürlich ist das kein adäquater Vergleich. Aber ich meine es wirklich ernst: Viele Staaten, die es selbst mit vielen Menschenrechten nicht so genau nehmen, schauen mit einer unglaublichen Hochnäsigkeit auf China. Da hat die Schweiz eine gute Position: Sie anerkennt die Fortschritte, die China gemacht hat, damit erhält sie auch die Legitimation zur Kritik. Lob relativiert Kritik nicht, aber es balanciert sie aus, bringt sie in ein ganzheitlicheres Licht. Die Internierung der Uiguren ist nicht zu rechtfertigen. Sie ist im Kontext aller Menschenrechte zu beurteilen. 

Sie lehren an einer chinesischen Universität für Minderheiten. Gibt es in China trotz des harten Vorgehens gegen die Uiguren auch Minderheiten, die wohl gelitten sind?

Peking tut viel für die 55 offiziell anerkannten und unterstützten ethnischen Minderheiten im Land. An den speziellen Universitäten wird in den jeweiligen Sprachen unterrichtet. Die Regierung weiss genau, dass sie die Minderheiten nur im Reich halten kann, wenn sie ihnen kulturell-sprachliche und teilweise religiöse Freiheiten gibt. Meiner Meinung nach müssten auch die Uiguren vermehrt so behandelt werden. Dass das zu wenig geschieht, hat wohl geostrategische Gründe. Kulturell, politisch und religiös stehen die Uiguren dem islamischen Zentralasien näher als Zentralchina. Daraus speist sich die Angst der Regierung um die Einheit. 

Können Sie sich in China eigentlich noch frei äussern? Wie viele Kompromisse müssen Sie eingehen?

Ich trete nicht als Anwalt für Tibet oder für die Uiguren auf. Das müssen andere tun. Deshalb befürworte ich Chinas Politik gegenüber diesen Minderheiten aber noch lange nicht. Ich setze einfach andere Schwerpunkte. In der Umweltethik und Wirtschaftsethik bis hin zur interreligiösen Ethik ist sehr viel möglich. Ich versuche, meinen Spielraum auszuloten und zu nutzen. Ich überlege rational, wo ich etwas bewirken kann. Ich bin kein Anhänger einer Märtyrerhaltung, denn Märtyrer haben selten viel erreicht. Ich versuche eher das Jesus-Wort umzusetzen: «Seid klug wie die Schlangen und ohne Fehl wie die Tauben» (Mt.10,16). Wir müssen auf den Dialog setzen. Solange wir miteinander sprechen, schiessen wir nicht aufeinander.