Das Olympische Komitee betont gerne das Völkerverbindende des Sports in Abgrenzung zur Politik. Gibt es überhaupt unpolitische Spiele?
Christoph Stückelberger: Alle sportlichen Grossereignisse werden von Regierungen zur Eigenwerbung genutzt. Wer eine gegnerische Position vertritt, nutzt die Spiele als Plattform für Kritik oder droht gar mit dem Boykott. Doch aus ethischer Sicht sollten olympische Spiele so weit als möglich entpolitisiert werden.
Wer nach China geht und die Inszenierung still über sich ergehen lässt, gibt mit seinem Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen doch auch ein Statement ab.
Der Einwand ist berechtigt: Man kann nicht nicht politisch sein. Doch die Ausdrucksmittel können verschieden sein. Natürlich gilt es Chinas Umgang mit den Uiguren, die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen für die Fussball WM in Katar oder die Menschenrechtslage in Russland zu kritisieren. Aber Boykotte führen zur Eskalation. Die entscheidende Frage ist: Was trägt zur Deeskalation bei? Das kann nur das Gespräch. Deshalb unterrichte ich weiterhin an Universitäten in China, Russland oder Nigeria.
Und es gibt keine Grenze, wo Sie sagen: «Unter diesen Bedingungen kann ich meine Lehrtätigkeit nicht mehr ausüben»?
Diese Grenze gibt es natürlich. Sie liegt da, wo der Maulkorb zu einschränkend wirkt.
In China sitzt der Maulkorb noch locker genug?
Die Einschränkungen haben zugenommen in den letzten drei Jahren. Ich bin jetzt seit etwa 25 Jahren regelmässig in China. Zu Beginn konnte man sich ohne einen Übersetzer, der zugleich ein Aufpasser der Regierung war, mit niemandem unterhalten. Später gab es eine Zeit relativer Offenheit, wo die Kontrolle weniger engmaschig und viel Freiheit möglich war. Inzwischen hat die Angst, dass regierungskritische Äusserungen direkt an die Behörden rapportiert werden, wieder zugenommen. Dennoch ist ein akademischer Diskurs möglich, auch an der Uno in Genf können wir mit chinesischen Nichtregierungsorganisationen Veranstaltungen zu heiklen Fragen abhalten.
Aber auch Nichtregierungsorganisationen stehen unter Beobachtung.
Natürlich. Ich bin nicht naiv. Menschenrechtsverletzungen in China gilt es zu kritisieren. Das sollen Einzelne, das soll die Schweiz tun. Grundvoraussetzung für eine solche Kritik ist jedoch, dass das Gegenüber als gleichberechtigter Partner wahrgenommen wird. Es darf nicht darum gehen, einen Staat politisch und ökonomisch zu isolieren. Weil ich diesem Grundsatz nachlebe, habe ich bisher keine Probleme bekommen in China: Ich respektiere China, ich würdige die Leistung Chinas, also kann ich auch Kritik üben.
Es fehlt an Respekt gegenüber China?
Im Kalten Krieg, der zurzeit zwischen den USA und China im Gange ist, ganz bestimmt. Darin geht es nur darum, den Andern in die Knie zu zwingen. Das sind schlechte Voraussetzungen für Menschenrechtskritik. Die amerikanische Überheblichkeit im Menschenrechtsdiskurs ist offensichtlich.
China glänzt aber auch nicht mit Wertschätzung gegenüber anderen Staaten.
Überheblich verhalten sich tatsächlich beide Seiten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. China beruft sich gerne auf seine fünftausendjährige Geschichte und fühlt sich anderen Kulturen überlegen. Allerdings gibt es auch in der kommunistischen Partei unterschiedliche Kräfte. Neben den Falken gibt es auch Funktionäre, die glaubwürdig eine multilaterale Welt anstreben, in der China zwar eine wichtige Rolle spielt, aber nicht den Anspruch hat, als Supermacht andere Staaten zu dominieren.