Recherche 17. Februar 2022, von Felix Reich

Angst ist die Wurzel der Repression

Sport

Die Olympischen Spiele von Peking stehen im Schatten der Menschenrechtsverletzungen in China. Zwei Theologen und Kenner des Landes be-werten den Einparteienstaat unterschiedlich.

Xi Jinping muss an den Olympischen Spielen, die am 4. Februar in Peking eröffnet wurden, ohne die ganz grosse Inszenierung auskommen. Die USA und mit ihnen viele europäische Staaten lassen die oberste Garde der Diplomatie zu Hause. Das schmerze Xi Jinping, sagt China-Kenner Tobias Brandner. Denn das Selbstbild der kommunistischen Funktionäre sei «beinahe biblisch»: «Wie die Israeliten in den Psalmen davon singen, dass die Welt nach Zion ströme, wollen sie dem heimischen Publikum die Botschaft senden, dass Staatschefs aus aller Welt nach China kommen.»

Im chinesischen Kontext bedeute ein Besuch immer eine Respektbezeugung. Dass China wegen der Menschenrechtsverletzungen diese Wertschätzung vorenthalten wird, findet der Theologieprofessor richtig, der in Hongkong an der Universität lehrt. Für Mission 21 arbeitet er zudem als Gefängnisseelsorger und bekommt «hautnah mit, welche Opfer dieser repressive Staat fordert».

Besiegter Hunger

Ein anderes Bild zeichnet Christoph Stückelberger. Reformierter Pfarrer ist auch er, und auch er unterrichtet in China. Politische Freiheiten seien zwar eingeschränkt, doch achte China die «elementaren Rechte auf Nahrung, Arbeit und Bildung» vorbildlich, sagt der Ethiker, der in Peking an der Minzu-Universität für Minderheiten lehrt. Es nütze den Menschen nichts, wenn sie hungrig schlafen gehen müssten, aber dafür abstimmen dürften. «Chinas Kampf gegen den Hunger ist ein Erfolg, der Anerkennung verdient.»

Brandner wiederum warnt davor, die Menschenrechtsdebatte und die «eindrücklichen Leistungen» Chinas im Ernährungsbereich zu verknüpfen. «Wer das tut, tappt in die Falle, die ihm die chinesische Regierung stellt.» Um den Hunger zu besiegen, müsse ein Staat niemanden inhaftieren oder gar töten. Stückelberger weist darauf hin, dass die Zentralregierung die Anbauschlachten «nicht zuletzt dank weit reichender Kompetenzen rasch umsetzen konnte».

Kontrollierte Christen

Einig sind sich beide Experten, dass die Repression zugenommen hat, seit Xi Jinping vor zehn Jahren an die Macht kam. «Sein harter Kurs zeugt von einer tiefen Verunsicherung», sagt Brandner. Die Proteste in Hongkong, wie auch alle Demokratiebewegungen weltweit, tue die Parteiführung als grosse Verschwörung ab, die von den USA orchestriert sei, um China zu schaden.

Die Härte spüren auch die Christen. Zwar betont Stückelberger, dass sie Gottesdienste feiern und den kirchlichen Sozialdienst ausbauen könnten. Doch wenn er an einem Gottesdienst teilnimmt, wird er nicht wie früher spontan nach vorn gebeten, um ein Gebet zu sprechen. Stattdessen zeigen die chinesischen Pfarrer auf die Kameras in der Kirche und bitten den Gast, sitzen zu bleiben.

Zerstörte Kirchen

Brandner erzählt, wie auch offiziell anerkannte Kirchen «extrem drangsaliert» werden. So liess die Regierung Kirchen zerstören, weil beim Bau gegen Vorschriften verstossen worden sein soll. Das sei ein Muster: «Die Regeldichte ist in China enorm, so findet der Staat immer einen Grund, um einzuschreiten.»

Trotz Bedenken stellt Brandner den Austragungsort nicht grundsätzlich infrage. «Das Olympische Komitee muss froh sein, überhaupt Länder zu finden, die den Gigantismus der Spiele noch mitmachen.» Und China sei eine Sportnation.

Subtiler Protest

Von offener Kritik rät Brandner den Sportlern ab. Das Olympische Komitee sei zu schwach, um ihre Sicherheit zu garantieren. «Subtile Zeichen des Protests» seien aber angebracht, China wisse sie zu lesen, sagt der Pfarrer.

Gegen leise Kritik hat auch Stückelberger nichts, doch gelte es, im gleichen Atemzug chinesische Errungenschaften zu würdigen. «Lob relativiert Kritik nicht, es balanciert sie aus.»