Recherche 03. Februar 2022, von Felix Reich

«Die Repression zeugt von einer tiefen Verunsicherung»

Sport

Tobias Brandner ist Gefängnisseelsorger in Hongkong. Vor den Olympischen Spielen in Peking spricht er über die Lage der Christen in China und die Angst hinter der Repression.

Wenn Sie ein Spitzensportler wären, würden Sie teilnehmen an den Olympischen Spielen in Peking?

Dann wäre ich politisch wahrscheinlich weniger interessiert und würde teilnehmen. 

Und wenn Sie ein politisch interessierter Sportler wären?

Dann würde ich wohl trotzdem teilnehmen. Ich verstehe jeden Sportler, der nach Peking reist. In einer Sportkarriere haben Olympische Spiele eine grosse Bedeutung. Ich würde mir aber überlegen, ob ich in diesem totalitären Umfeld eine subtile Botschaft übermitteln kann. 

Ein Free-Tibet-Shirt bei der Siegerehrung zu tragen, halten Sie für keine gute Idee?

Das wäre nicht sehr subtil. Vor offener Kritik rate ich ab zum Schutz der Sportler. Wobei es natürlich schon sehr peinlich wäre für das Regime, einen Sportler vom Podest weg zu verhaften. Aber das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat im Vorfeld der Spiele ziemlich deutlich gezeigt, dass es keine Lust hat, es sich mit China zu verscherzen. 

Sie spielen auf die Rolle von IOC-Präsident Thomas Bach an, der mit seinem Videogespräch mit Peng Shuai das chinesische Propaganda-Spiel mitgemacht hatte. Die Tennisspielerin war verschwunden, nachdem sie einem hohen Parteifunktionär sexuellen Missbrauch vorgeworfen hatte.

Der Fall zeigte, dass das IOC im Gegensatz zum Tennis-Weltverband (WTA), der alle Turniere in China vom Kalender strich, nicht die Stärke hat, sich mit dem Regime anzulegen. 

Die Kontroverse

Aus Anlass der Olympischen Spiele in Peking befragte «reformiert.» zwei ausgewiesene Kenner Chinas. Beide sind Pfarrer und unterrichten an chinesischen Universitäten. Tobias Brandner hat eine Professur in Hongkong, Christoph Stückelberger lehrt an der Minzu-Universität in Peking sowie an zwei weiteren Universitäten in China. Ihre Beurteilung der Politik der kommunistischen Partei geht weit auseinander. Auch in der Debatte über die Einhaltung der Menschenrechte setzen sie ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Einig sind sich die Theologen jedoch darin, dass die Repression zugenommen hat, seit Xi Jinping die Macht übernommen hat, und auch die Christen in China stärker kontrolliert werden.

Die Sportlerinnen und Sportler können in Peking keinen Schutz erwarten?

Das IOC kann und will sie nicht schützen. Aber es gibt dennoch Möglichkeiten, Kritik zu üben. Die Chinesen sind sehr wohl fähig, verklausulierte Botschaften zu lesen. Die Frage ist nur, ob sie durch die chinesischen Staatsmedien überhaupt kommuniziert werden. 

Dient solche Kritik vor allem der eigenen Psychohygiene? Die Situation der Menschen, die unter der chinesischen Repression leiden, wird sie jedenfalls kaum verbessern.

Das ist eine sehr gute und berechtigte Frage. Wahrscheinlich dient die Kritik wirklich in erster Linie der eigenen Gewissensberuhigung. In China wird sich deshalb nichts ändern. Allerdings geht es noch um eine weitere Dimension: Wenn ein Sportler in China ein Signal der Kritik aussendet, stärkt er den internationalen Dissens. Er zeigt der internationalen Öffentlichkeit, dass die Menschenrechtsverletzungen in China nicht einfach hingenommen werden müssen. 

Tobias Brandner

Tobias Brandner

Der reformierte Pfarrer lebt seit 25 Jahren in Hongkong. Er ist internationaler Mitarbeiter des Hilfswerks Mission 21 und arbeitet als Associate Professor für Theologie an der Chinese University in Hongkong. Darüber hinaus ist er als Gefängnisseelsorger tätig.

War es eigentlich eine gute Idee, die Spiele in einen Staat wie China zu vergeben?

Sicher die bessere Idee als die Fussballweltmeisterschaften in Katar auszutragen. China ist eine Sportnation. Und wenn das IOC den Anspruch hat, eine internationale Organisation zu sein, muss es auch in solche Länder gehen. Zudem ist das Komitee ja inzwischen darauf angewiesen, dass es überhaupt noch Staaten findet, die bereit sind, den Gigantismus der Spiele mitzumachen.

Das IOC betont das Völkerverbindende des Sports. Sind unpolitische Spiele möglich?

China selbst politisiert die Spiele, indem es sich als Weltmacht inszeniert.

Was China ja auch ist.

Richtig. Aber der Staatsführung reicht der wirtschaftliche oder militärische Weltmachtstatus nicht aus, sie möchte China auch als kulturelle Führungsmacht sehen. China will nicht nur mächtig, sondern auch attraktiv sein. Es ist schon fast biblisch: Wie die Israeliten in den Psalmen davon singen, dass die Welt nach Zion ströme, will die kommunistische Führung seinem heimischen Publikum die Botschaft übermitteln, dass die Staatschefs aus aller Welt nach China strömen. Im chinesischen Kontext ist ein Besuch immer eine Respektbezeugung.

Diesen Respekt verweigern nun die USA und viele europäische Staaten. Aber ist das nicht reine Symbolpolitik? Die Menschenrechtslage in China verbessert sich nicht, wenn die Aussenminister zu Hause bleiben.

Ich halte den diplomatischen Boykott für richtig. Tatsächlich geht es um eine Auseinandersetzung auf symbolischer Ebene. Aber sie ist wichtig: Die Staaten signalisieren, dass sie den Respekt verweigern, solange China Menschenrechte derart verletzt.

Und das hilft?

In China kommt die Botschaft an. Die Staatführung versucht dann, den Spiess umzudrehen und sagt, der Westen soll sich nicht als moralische Instanz aufspielen und Menschenrechte müssten in einen kulturellen Kontext eingebettet werden. Gerne werden auch Menschenrechtsverletzungen in den USA angeprangert. Amerikakritik mag begründbar sein, doch ich bin in den letzten Jahren eindeutig amerikafreundlicher geworden. Die USA haben keine reine Weste, aber sie sind wesentlich transparenter als China. Zudem haben Amerikanerinnen und Amerikaner die Möglichkeit, ihrer Regierung zu widersprechen. Chinesinnen und Chinesen können das nicht.

Hat sich nur Ihre Wahrnehmung verschoben oder hat China die Repression verstärkt?

Beides. In meiner Arbeit als Gefängnisseelsorger in Hongkong bekomme ich hautnah mit, welche Opfer dieser repressive Staat fordert. Das hat meine Perspektive verändert. Zugleich hat sich die Situation massiv verschlechtert, seit Xi Jinping vor zehn Jahren die Macht übernommen hat. Die Zustände in China, wie sie um die Jahrtausendwende geherrscht haben, erscheinen mir im Rückblick paradiesisch freiheitlich.

Was hat sich konkret verändert?

Hongkong war als Teil von China damals eine freiheitliche Gesellschaft. Es gab Debatten und Demonstrationen. Auch in Festlandchina war vieles möglich etwa im Bereich der Religion. Wir haben grosse Konferenzen organisiert, im akademischen Raum wurden theologische und ethische Fragen offen diskutiert. Kirchen konnten Gäste aus dem Ausland empfangen, sich vernetzen. Natürlich konnte man auch damals kein Free-Tibet-Transparent aufhängen, aber es herrschte durchaus eine freiheitliche Atmosphäre.

In welcher Situation befinden sich die Kirchen heute?

Ausländische Gäste werden nicht mehr eingeladen. Nicht weil sie nicht mehr willkommen wären, sondern weil die Kirchen Konsequenzen fürchten.

Die Kirchen können für die Sicherheit ihrer Gäste nicht mehr garantieren?

Das ist nicht das Problem. Wenn ich heute einen befreundeten Pfarrer in China besuchen will, sagt er mir aus Angst um sich selber ab. Im August 2019 habe ich zuletzt China bereist. Als die Beamten an der Grenze herausgefunden haben, dass wir eine kirchliche Gruppe sind, wurden wir stundenlang festgesetzt. Danach war nur ein sehr reduziertes Programm möglich. Es ist nicht so, dass die Religionsbehörde den Kirchen einfach verbietet, Gäste zu empfangen. Die Beamten stellen Fragen: Ob der Pfarrer sich ganz sicher sei, dass er diese Besuchergruppe aus der Schweiz empfangen wolle? Ob er sich das wirklich gut überlegt habe? Einschüchterung geschieht in China sehr diplomatisch.

Haben Sie eine Erklärung für den härteren Kurs?

Wie immer steht die Einheit Chinas inklusive Taiwan, Hongkong und Tibet über allem. Zur Angst vor Sezession kommt der Verdacht, dass die USA nichts unterlässt, um China zu destabilisieren. Die Regierung behauptet, dass die farbigen Revolutionen vom arabischen Frühling bis zu den Maidan-Protesten in der Ukraine von Amerika gesteuert wurden.

Laut diesem Narrativ ging es nie um Menschenrechte und Demokratie…

…sondern allein um amerikanische Hegemonie, die Unterminierung chinesischer Interessen.

Eine Verschwörungstheorie.

Ja. Auch die Demokratiebewegung in Hongkong wurde ganz simpel zur vom CIA orchestrierten Verschwörung erklärt. Die Partei besitzt gar nicht die Fähigkeit, Proteste als Symptom einer lokalen Unzufriedenheit wahrzunehmen.

Olympischer Gigantismus

Die Olympischen Spiele in Peking werden am 4. Februar offiziell eröffnet. Die 24. Winterspiele finden ganz ohne natürlichen Schnee statt. Zwar herrschen winterliche Temperaturen, doch fehlen in dieser Jahreszeit die Niederschläge. Allein im Skigebiet Yanqing wurden deshalb 158 Schneekanonen und 30 Lanzen eingesetzt, um ein Band aus Kunstschnee über den Berg zu legen. Viele Demokratien haben sich inzwischen aus dem Rennen um die Austragung von Winterspielen verabschiedet, weil sie den Gigantismus politisch nicht durchsetzen können. 2015 waren nur noch Peking und das kasachische Almaty im Rennen, als die Spiele vergeben wurden. 

Den Menschenrechtsdiskurs kritisiert China als amerikanisch dominiert.

China behauptet, die Menschenrechte zu schützen. Das wichtigste Menschenrecht sei das Recht, am Wohlstand der Nation teilhaben zu dürfen. Den Dissidenten wird vorgeworfen, dass sie aus egoistischen Motiven ihre Gerechtigkeitsvorstellungen über das wirtschaftliche Wohl der Allgemeinheit stellen.

Für das Menschenrecht auf Nahrung macht sich ja auch die Uno stark.

Bisher duckte sich China weg, wehrte sich gegen jede Einmischung. Unter Xi Jingping bringt sich das Land ein in der Uno und will die Texte für Uno-Chartas beeinflussen. Dass das Recht auf Nahrung hohe Priorität geniesst im Menschenrechtsdiskurs, ist eine Folge davon.

Auch in der Schweiz gibt es Stimmen, die einen neuen Fokus in der Menschenrechtsdebatte verlangen: Das Recht auf Nahrung sei höher zu gewichten als etwa das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit. Deshalb habe China für seinen erfolgreichen Kampf gegen den Hunger auch mit Rücksicht auf die Menschenrechte Respekt verdient. Was antworten Sie?

Dass wir als Kirche gerade mit Blick auf unsere reformierte Tradition eine prophetische Aufgabe haben. Zu diesem prophetischen Auftrag gehört, Unrecht einzuklagen. Es ist eine sehr utilitaristische Haltung, das Recht auf Nahrung in einer Hierarchie über das Recht auf Meinungsäusserungsfreiheit zu stellen. Das würde bedeuten: Um 1,3 Milliarden Menschen zu ernähren, darf man einige Millionen Menschen leiden lassen. Eine Minderheit zu opfern, damit es der Mehrheit gut geht, ist ethisch ein No-Go.

Sie bringen der chinesischen Führung keinen Respekt entgegen?

Parteichef Xi Jinping braucht ständige Loyalitätsbekundungen und fürchtet den offenen Diskurs. Sein repressiver Kurs zeugt von einer tiefen Verunsicherung. Nein, vor Angsthasen habe ich keinen Respekt. Grossen Respekt habe ich hingegen vor all jenen chinesischen Dissidenten, die in ihrem Kampf für die Freiheit Gefängnisstrafen auf sich nehmen.

Und wie beurteilen Sie Chinas Bilanz im Kampf gegen den Hunger?

China hat Eindrückliches geleistet. Aber dieser Erfolg darf nicht verknüpft werden mit dem Menschenrechtsdiskurs. Wer das tut, tappt in die Falle, die ihm die chinesische Regierung stellt, und übernimmt ihren Diskurs. Man muss nicht Menschen einsperren oder töten, um die Ernährungssituation zu verbessern.

Fühlen Sie sich eigentlich noch sicher in Hongkong?

Persönlich fühle ich mich sicher. Als Seelsorger habe ich weiterhin Zugang zu den Gefängnissen, in meiner akademischen Arbeit an der Universität bin ich nicht eingeschränkt. Aber ich äussere mich in China nicht politisch. Ich bin Pfarrer, kein politischer Aktivist. Die Bibel ist politisch genug. Sie hat eine enorme subversive Kraft, die von den Menschen in Hongkong durchaus wahrgenommen wird. Das Regime spürt sie wohl auch, deshalb wächst seine Angst vor den Christen.

Der starke Mann im Staat

Xi Jinping ist seit 2012 Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas und seit 2013 Staatspräsident der Volksrepublik. Er präsidiert auch die Zentrale Militärkommission und damit ganz klar der mächtigste Mann im Riesenreich. Die Amtszeitbeschränkung, die für Staatspräsidenten gegolten hatte, liess er vor vier Jahren aufheben. Den sanften Reformbemühungen seines Vorgängers Hu Jintao hat er gestoppt und einen repressiven, patriotischen Kurs eingeschlagen. Seit er die Macht übernommen hat, setzt China vermehrt auf die digitale Überwachung der Bevölkerung und versucht seine geostrategischen Interessen entschieden durchzusetzen. Xi Jinping wurde 1953 geboren und begann seine politische Karriere als Vizebürgermeister in Xiamen.

Inwiefern bekommen das die chinesischen Christen zu spüren?

Die Christen sind unter grossem Druck. Ein Beispiel: Zwischen 1990 und 2010 waren Hausgemeinden wie heute offiziell verboten, aber sie wurden toleriert. Der Staat schritt erst ein, wenn eine Gemeinde zu gross wurde oder zu gut vernetzt war. Heute können sich christliche Gemeinden, die nicht beim Staat registriert sind, nur noch im Verborgenen treffen.

Es sind Untergrundkirchen entstanden?

Gegen diesen Begriff habe ich mich immer gewehrt. Inzwischen entspricht er der Realität. Die Mitglieder solcher Kirchen können sich nur noch zu fünft oder zu zehnt in einem privaten Haushalt treffen. Wenn sie zu laut singen, müssen sie Angst haben, verraten zu werden.

Sind das protestantische Kirchen?

Ja. Der Protestantismus ist viel stärker in China als der Katholizismus. 

Sind die beim Staat registrierten Kirchen in einer besseren Situation? 

Auch die offiziell anerkannten Kirchen werden extrem drangsaliert. Ich weiss von einer protestantischen Kirche, vor deren Eingang die Partei einfach eine Mauer gebaut hat, um den Zugang zu versperren. Andere Kirchen wurden zerstört aufgrund irgendwelcher Vorschriften im Bauwesen. Das ist ein Muster in China, das jeder kennt, der dort wirtschaftet: Die Regeldichte ist enorm, der Staat findet immer irgendeinen Grund, um einzuschreiten. 

Beschränkt sich die Repression auf bauliche Schikanen? 

Nein. Ein Bekannter von mir, Joseph Gu, war Pfarrer in Hangzhou an der wohl grössten Kirche in China. Er wagte es, die Kirchenzerstörungen zu kritisieren. Nun ist er weg vom Fenster, nachdem ihm die Behörden finanzielle Unregelmässigkeiten vorgeworfen hatten. 

Fürchtet das Regime um die Loyalität der Christen? 

Ja. Für das harte Vorgehen gegen die Christen sehe ich drei Gründe. Erstens nimmt die Partei das Christentum noch immer als westliche Religion wahr. Was freilich Quatsch ist, wenn schon ist das Christentum eine asiatische Religion. Zweitens weiss die Führung, dass das Christentum insbesondere in Ländern im ehemaligen Ostblock bei Umstürzen eine zentrale Rolle spielte. Überhaupt fürchtet China den Einfluss der Religion auf die Politik und ihr massives Mobilisationspotenzial für Protestbewegungen, auch mit Blick auf den Islam. Und drittens ist sich die kommunistische Partei bewusst, dass die Loyalität der Christen zuletzt nicht dem chinesischen Gott, Xi Jingping, gilt, sondern dem biblischen Gott.