War es eigentlich eine gute Idee, die Spiele in einen Staat wie China zu vergeben?
Sicher die bessere Idee als die Fussballweltmeisterschaften in Katar auszutragen. China ist eine Sportnation. Und wenn das IOC den Anspruch hat, eine internationale Organisation zu sein, muss es auch in solche Länder gehen. Zudem ist das Komitee ja inzwischen darauf angewiesen, dass es überhaupt noch Staaten findet, die bereit sind, den Gigantismus der Spiele mitzumachen.
Das IOC betont das Völkerverbindende des Sports. Sind unpolitische Spiele möglich?
China selbst politisiert die Spiele, indem es sich als Weltmacht inszeniert.
Was China ja auch ist.
Richtig. Aber der Staatsführung reicht der wirtschaftliche oder militärische Weltmachtstatus nicht aus, sie möchte China auch als kulturelle Führungsmacht sehen. China will nicht nur mächtig, sondern auch attraktiv sein. Es ist schon fast biblisch: Wie die Israeliten in den Psalmen davon singen, dass die Welt nach Zion ströme, will die kommunistische Führung seinem heimischen Publikum die Botschaft übermitteln, dass die Staatschefs aus aller Welt nach China strömen. Im chinesischen Kontext ist ein Besuch immer eine Respektbezeugung.
Diesen Respekt verweigern nun die USA und viele europäische Staaten. Aber ist das nicht reine Symbolpolitik? Die Menschenrechtslage in China verbessert sich nicht, wenn die Aussenminister zu Hause bleiben.
Ich halte den diplomatischen Boykott für richtig. Tatsächlich geht es um eine Auseinandersetzung auf symbolischer Ebene. Aber sie ist wichtig: Die Staaten signalisieren, dass sie den Respekt verweigern, solange China Menschenrechte derart verletzt.
Und das hilft?
In China kommt die Botschaft an. Die Staatführung versucht dann, den Spiess umzudrehen und sagt, der Westen soll sich nicht als moralische Instanz aufspielen und Menschenrechte müssten in einen kulturellen Kontext eingebettet werden. Gerne werden auch Menschenrechtsverletzungen in den USA angeprangert. Amerikakritik mag begründbar sein, doch ich bin in den letzten Jahren eindeutig amerikafreundlicher geworden. Die USA haben keine reine Weste, aber sie sind wesentlich transparenter als China. Zudem haben Amerikanerinnen und Amerikaner die Möglichkeit, ihrer Regierung zu widersprechen. Chinesinnen und Chinesen können das nicht.
Hat sich nur Ihre Wahrnehmung verschoben oder hat China die Repression verstärkt?
Beides. In meiner Arbeit als Gefängnisseelsorger in Hongkong bekomme ich hautnah mit, welche Opfer dieser repressive Staat fordert. Das hat meine Perspektive verändert. Zugleich hat sich die Situation massiv verschlechtert, seit Xi Jinping vor zehn Jahren die Macht übernommen hat. Die Zustände in China, wie sie um die Jahrtausendwende geherrscht haben, erscheinen mir im Rückblick paradiesisch freiheitlich.
Was hat sich konkret verändert?
Hongkong war als Teil von China damals eine freiheitliche Gesellschaft. Es gab Debatten und Demonstrationen. Auch in Festlandchina war vieles möglich etwa im Bereich der Religion. Wir haben grosse Konferenzen organisiert, im akademischen Raum wurden theologische und ethische Fragen offen diskutiert. Kirchen konnten Gäste aus dem Ausland empfangen, sich vernetzen. Natürlich konnte man auch damals kein Free-Tibet-Transparent aufhängen, aber es herrschte durchaus eine freiheitliche Atmosphäre.