Tobias Brandner steht auf der Dachterrasse des Hochhauses «The One» in Tsim Sha Tsui. Wie Sterne der Milchstrasse funkeln die Fensterfronten vom gegenüberliegenden Ufer von Hongkong nach Kowloon herüber. Brandner streckt seinen Arm aus und deutet auf eines der Hochhäuser. «Der Wolkenkratzer rechts gehört -einem meiner Schützlinge», sagt er und lacht. Dem Immobilien-Tycoon ist er im Hochsicherheitstrakt begegnet und begleitet ihn dabei, sein Fernstudium in Theologie zu absolvieren.
Brandner ist gebürtiger Aargauer. Das Fernweh seiner Frau führte ihn vor 22 Jahren nach Hongkong. Seitdem arbeitet er für das Hilfswerk Mission 21 als Gefängnispfarrer. Bekehrungserlebnisse, wie ein Schweizer schwere Jungs in Hongkong in reuige Sünder verwandelt: das elektrisiert die Presse vor Ort und in der Schweiz. Brandners Botschaft: den Gefangenen ohne Vorurteile gegenübertreten. «Auch wir angeblich normale Menschen haben solche Abgründe in uns.»
Das Gefängnis am Meer
Den Satz sagt Brandner auch an einem Sonntag im April gegenüber den Freiwilligen, die ihn ins Gefängnis begleiten. An der U-Bahn-Station Tung Chung auf der Insel Lantau besteigt das zehnköpfige Besucherteam den Bus. Vorbei geht es an den Betonwaben der Wohnsilos für die Millionen von weniger wohlhabenden Hongkong-Chinesen, die für die Miete dennoch das halbe Monatssalär zahlen. Plötzlich wechselt das Betongrau zu Grün. Und mitten im Dickicht öffnet sich der Blick aufs Meer. Aber nicht für ein Freizeitresort wurde hier eine Lichtung geschlagen, sondern für den stacheldrahtumsäumten Hochsicherheitstrakt Shek Pik.
Lediglich Schmetterlinge schweben durch den Maschendraht. Wenige Meter entfernt rauscht das Meer, das die Häftlinge, verurteilt als Mörder oder Drogendealer, für 20, 30 Jahre nicht mehr sehen werden. Harte Strafen. Denn anders als in Prozessen in vielen westlichen Ländern spielen die Motive und Umstände, die zur Tat führten, bei der Urteilsfindung keine Rolle.
Bevor die Besucher zu den Gefangenen gelangen, fallen sieben schwere Gittertüren ins Schloss, heult siebenmal ein Warnsignal auf und rotiert siebenmal das Blaulicht. In der zweigeteilten Welt aus grün uniformierten Wärtern und braun gekleideten Insassen hat das Labyrinth aus Sicherheitsschleusen noch nie ein Gefangener überwunden.
Im letzten Korridor angelangt, fällt der Blick auf den vergitterten Aufenthaltsraum. Manche Häftlinge haben sich ihrer braunen Oberteile entledigt. Tattoos auf ihren Rücken bringen Farbe in den tristen Raum. Lethargisch sitzen die einen vorm Fernseher, andere starren ins Leere. Die Ankunft von Brandner bringt Bewegung in die Gruppe. Einige Häftlinge strecken ihre Hände durch die Gitterstäbe.
Wenige Minuten später trotten die Gefangenen mit Plastiklatschen an den Füssen in den Raum gegenüber zur Andacht. Lebhaft singen sie jetzt mit, stimmen als Hindus und Buddhisten genauso wie die christlich Bekehrten einen christlichen Hymnus an. Beim Gebet herrscht konzentrierte Stille.
«Bete zu Jesus Christus»
Dann bilden sich Gesprächsgrüppchen, begleitet von Brandners freiwilligen Helfern. Ein indischer Familienvater erzählt eindringlich seine Geschichte, als würde er wieder vor dem Richter stehen. Wie ihm ein Bekannter am Zoll ein Päckchen Heroin zugesteckt habe, er pocht auf seine Unschuld.
Die chinesische Freiwillige will sich nicht allzu lange mit der persönlichen Geschichte des Gefangenen aufhalten, der sich sein hinduistisches Glaubensbekenntnis mit -einer Ganesha-Gottheit in die Haut stechen liess. Unvermittelt fordert sie den Inder auf: «Versuche zu Jesus Christus zu beten.» Er aber beharrt darauf, dass Gott für alle Menschen, ob Hindus oder Buddhisten, ob Muslime oder Christen da sei.
Glaube gegen die Leere
Die Gefangenen sind fast schon ein Spiegelbild von Hongkong, einer Stadt so ordentlich wie ein Schweizer Dorf, in dem man Vandalismus oder Littering nur aus der Zeitung kennt. Sie wirken gefasst und friedlich. Später auf der Rückfahrt sagt Tobias Brandner, in all den Jahren habe er als Seelsorger im Gefängnis kaum eine Schlägerei oder einen Gewaltausbruch beobachtet.
Brandner selbst geht es darum, den Insassen einen Freiraum zu eröffnen. Für einen Moment sollen sie aus dem strengen Korsett ihres Gefängnisalltags ausbrechen können. Dass sich immer wieder Gefangene von ihm taufen lassen, freut den Theologen. «Es ist aber nicht mein Ziel.» Im Gefängnis mit den langen Strafen von mehr als 20 Jahren helfe der Glaube gegen die innere Leere und Perspektivlosigkeit.
Keine religiöse Ausgrenzung
Dass die Helferinnen und Helfer den Gefangenen mit ungewöhnlich missionarischem Eifer begegnen, verurteilt Brandner nicht. «Es gibt verschiedene Sprachen, um über Gott und Jesus Christus zu sprechen.» Westliche Abgrenzung von Konfessionen und Frömmigkeitsstilen hat Brandner in seinen zwei Jahrzehnten als ökumenischer Mitarbeiter von Mission 21 hinter sich gelassen. Er, der sich selbst als «progressiv-spirituell» definiert, akzeptiert konservative Evangelikale genauso wie Pfingstlerinnen.
Neben der Arbeit im Gefängnis unterrichtet Tobias Brandner als Hochschulprofessor für Theologie an der Chinese University. Sie liegt am Rande der Stadt im Grünen. Dass auf dem Universitätsgelände die in China umstrittene Statue, die «Göttin der Demokratie», nach langer Odyssee ihren Platz gefunden hat, ist wie eine politische Visitenkarte für die Hochschule. Die Statue ist eine Replika der fackeltragenden Göttin, die 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing thronte. Bei dem Massaker, das sich nun zum 30. Mal jährte, zermalmten Panzer nicht nur die Statue, sie rollten auch auf friedlich protestierende Menschen zu.
Der geplatzte Traum
Vor der symbolträchtigen Statue wartet Derek Lem, ein Student von Tobias Brandner. Die Lebensgeschichte des 25-Jährigen ist verbunden mit der Geschichte Hongkongs. Geboren ist er, als seine Heimatstadt noch britisch war. 1997 ging die Kronkolonie an die Volksrepublik China. Bis zum Jahr 2047 sollte Hongkong eine weitreichende Autonomie zugestanden werden. Das Motto lautete: «Ein Land, zwei Systeme». Bald aber machte China in Politik, Justiz und Bildung brachial seinen Einfluss geltend.
Die regimetreue Regierung des Stadtstaats verordnete 2012 das Fach «patriotische und nationale Erziehung». Derek Lam protestierte gegen die «politische Gehirnwäsche». 2014 sprang der Funke der Schülerbewegung auf die Demokratiebewegung über, die sich gegen ein von China aufgezwungenes Wahlprozedere wehrte. Nach 75 Tagen war die kreative Demokratieparty vorbei und die Polizei schaffte die letzten Demonstranten weg.
Für Lam war damit der Traum vom Journalistenberuf geplatzt. Auf dem Papier wurde mit der Formel «Ein Land, zwei Systeme» die Meinungsfreiheit für die nächsten 50 Jahre festgeschrieben. Doch Investoren, welche der kommunistischen Partei Chinas nahestanden, beteiligten sich an den Medien, die nun lammfromm zur Stimmgabel der Stadtregierung geworden sind. Lam sattelte um auf Theologie.
Im Käfig der Kompromisse
Dieser Studienwechsel überrascht nicht. Tobias Brandner betont immer wieder, wie viele engagierte Christen an der Spitze der Demokratiebewegung standen. Auch Joshua Wong gehörte dazu. Er wurde zur studentischen Symbolfigur und sagte einmal in einem Interview: «Ich bin Christ und ich denke, wir sollten das Salz der Erde und das Licht der Welt sein.»
Am Donnerstagabend sitzt Derek Lam beim Abendgottesdienst in der Universitätskapelle. Professoren der theologischen Fakultät und Studierende singen das Gelassenheitsgebet: «Gott, gib mir die Gnade mit Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden.» Fehlte 2014 die Einsicht, die Dinge zu erkennen, die nicht zu ändern waren? War es nicht von vornherein klar, dass die autoritäre Zentralregierung der aufmüpfigen Ex-Kolonie kein allgemeines Wahlrecht zugestehen würde?
Lam wertet die Bemühungen der Bewegung trotz der kritischen Fragen positiv: «Wir sind damals aus dem Käfig fauler Kompromisse ausgebrochen.» In diesen 75 Tagen habe sich eine demokratische Identität der Bürgerinnen und Bürger in Hongkong herausgebildet. Machtvoll demonstrierten sie beispielsweise in diesem Jahr am 6. Juni, dem Jahrestag des Tiananmen-Massakers, gegen das autoritäre Ein-Parteien-Regime in China und seine massiven Interventionen in die Politik Hongkongs.
Christen für die Demokratie
Auf der Dachterrasse von «The One» mit Blick auf die betonierte Vertikale der Hongkonger Skyline geht die Frage an Tobias Brandner: Waren die Studenten und Schülerinnen 2014 naiv? «Realpolitisch betrachtet schon», sagt er. Trotzdem hat er sie unterstützt. «Der Heilige Geist weht, wo er will», sagt Brandner und erinnert daran, wie unvorhersehbar der Boom des Christentums für die Schweizer Missionare war, als sie 1949 von Mao aus China vertrieben wurden. Überraschende Wendungen seien auch in der Zukunft nicht ausgeschlossen.
Seit 22 Jahren lebt Tobias Brandner mit seiner Familie nun hier. Hongkong ist zum Zuhause seiner drei Kinder geworden, von denen zwei mittlerweile in Zürich und in Konstanz studieren. Das Ehepaar wohnt privilegiert auf dem Campus der Universität, umgeben von viel Grün, und will voraussichtlich bis zur Pension bleiben. Aber im Alter geht es wieder zurück in die Schweiz: «Schon aus finanziellen Gründen», sagt Tobias Brandner. «Sogar in Zürich sind die Mieten günstiger als hier.»