Schwerpunkt 25. April 2018, von Hans Herrmann

Braucht es am Markt Wachstum?

Markt

Handeskammer-Dirketor Adrian Haas und Unternehmensberaterin Christel Maurer über das Wesen des Wachstums am Markt.

Adrian Haas, Direktor der Handelskammer des Kantons Bern:

«Der Mensch strebt nach neuer Erkenntnis»

Wirtschaftliches Wachs­tum sei eine wichtige Triebfeder für Inno­va­tion aller Art, sagt Adrian Haas.

«Ein Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum ist nicht wünschenswert, denn Wachstum bedeutet auch Fortschritt. Und dieser ist keine direkte Folge von poli­tischen oder gesellschaftlichen Entscheidungen, sondern gründet auf dem menschlichen Streben nach neuer Erkenntnis und Verbesserung des eigenen Lebens.

Ökonomen beschreiben daher Wachstum als die Mehrung des Wertes aller Güter und Dienstleistungen – darunter auch Kultur und Bildung –, die mit dem vorhandenen Kapital, der bereitstehenden Arbeitskraft, den verfügbaren Technologien und dem aktuellen Wissen produziert werden können. Wachstum bedeutet folglich nicht in erster Linie eine quantitative Vervielfachung, sondern eine Wertsteigerung.

Die wirtschaftliche und die technologische Entwicklung weckt beim Menschen aber auch Ängste und Sorgen. Das war schon immer so. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters zweifelten viele daran, dass der menschliche Körper hohe Tempi überhaupt aushalten kön­ne, und das Aufkommen des Autos war gepaart mit Befürchtungen über ­eine Entfremdung von der Natur.

Die Globalisierung schürt Ängste vor dem Verlust der eigenen Identität, und im Zusammenhang mit der aktuellen Digitalisierungsdebatte wird der Mensch gerne als Opfer dargestellt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Stimmen, die gerade in wirtschaftlich sorgenlosen Zeiten einen Marschhalt in Sachen Wachstum verlangen, auf Widerhall stossen.

Beachtet man die Fortschritte in den letzten Jahrzehnten, spricht jedoch alles dafür, weiterhin Wachstum anzustreben. Die Inno­vation in der Medizin hat viele Krankheiten heilbar ge­macht, die Möglichkei­ten, Nahrung um­­welt­­gerecht zu produzieren, konnten im Lauf der Zeit verviel­facht werden, und neue Kommunikationsmittel erleichtern die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Natürlich ist nicht jeder Fortschritt per se begrüssenswert. Aber: Die Welt ent­wickelt sich weiter. Sich davor zu verschlies­sen, hiesse nichts anderes, als die Chancen, die alle Neuerungen und Entwicklungen bieten, zu verpassen.»

Adrian Haas

 

Christel Maurer, Unternehmensberaterin, Coach, Autorin, Bern:

«Angebote sollen Sinn und Nutzen stiften»

Die Grenzen des Wachstums sind erreicht, mahnt Christel Maurer. Nun sei ein neues Unternehmertum gefragt.

«Wachstum erzielt eine Firma, indem sie ihren Umsatz steigert, also jährlich mehr Dienstleistung oder Güter produziert. Ob eine Firma wachsen muss oder nicht, um am Markt zu bestehen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Laufend Wachstum auszuweisen, ist nötig für Unternehmer, deren Firmen fremdfinanziert sind; sie müssen auf diesem Weg ihre Schulden abzahlen. Wer zudem ein austauschbares Produkt anbietet, kann gegenüber der Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil erzielen, indem er selber möglichst viel und dadurch möglichst billig produziert. Dies führt oft zu ruinösem Preiswettbewerb.

Zusätzlich fördern hohe Gewinn- und Renditeerwartung Wachstum auf Kosten der natürlichen Ressourcen und der Mitarbeitenden. Drastisch zunehmende Burn­out-Raten, Klimaerwärmung, Insektensterben, Plastikmüll in den Meeren und anderes sprechen eine deutliche Sprache: Die Grenzen des Wachstums sind erreicht.

Deutlich weniger unter Wachstumszwang stehen Fir­men, die ein innovatives Produkt auf den Markt bringen oder bereits bestehende Dienstleistungen auf eine neue, besonders kundenfreundliche Art anbieten. Dies ermöglicht Kundenbindung durch Innovation, Passion und Qua­lität, nicht durch blosse Quantität.

Ein Paradigmenwechsel tut not: Weg vom Wachstum um jeden Preis, hin zur Beseeltheit. Hierzu braucht es Unternehmerpersönlichkeiten, die bereit sind, neue Wege zu beschreiten. Die mit ihrem Angebot Sinn und Nutzen stiften – und gesellschaftliche Verantwortung über­­nehmen. Und die auch zufrieden sind, wenn ihre Firma kaum oder gar nicht wächst. Es gibt sie, diese Persönlichkeiten; damit sie am Markt bestehen können, sind sie aber auch auf Kundschaft angewiesen, die nicht von Geiz und Kauf­­gier getrieben ist, sondern auf Qualität, Individualität und Nachhaltigkeit setzt.

Wachstum muss jedoch nicht immer schlecht sein. Wenn ressourcenschonende Firmen wachsen und dadurch ressourcenverschleissende Firmen Marktanteile verlieren, ist dies eine positive Entwicklung.»