Schwerpunkt 28. September 2016, von Nicola Mohler

Das Religiöse in der Literatur

Literatur

Seit jeher verhandeln Religion und Literatur die grossen Fragen der Menschheit. Und die multireligiöse Gegenwart stimuliert Neugier auf die eigene Tradition.

«Sie werden lachen: die Bibel», beantwortete der deutsche Lyriker Bertolt Brecht die Frage nach seinem Lieblingsbuch. Immer wieder bedienten sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Bibel, um daraus grossartige Geschichten zu spinnen – früher genauso wie heute.

Der deutsche Schriftsteller Thomas Mann begann 1926 seinen vierteiligen Roman «Joseph und seine Brüder». Er erzählt darin die Geschichte Josephs, seiner Brüder und seines Vaters Jakob. Neben der Josephsgeschichte geht Thomas Mann immer wieder einer Frage nach: Gibt es das Göttliche?

Dass die biblischen Geschichten auch heute attraktiven Lesestoff bieten, zeigt etwa der deutsche Autor Patrick Roth. In seinem 2012 erschienen Roman «Sunrise. Das Buch Joseph» erzählt er die Geschichte Josephs neu und übersetzt sie in die heutige Sprache – mit Erfolg.

«In der Gegenwartsliteratur werden deutlich öfter und auch offener religiöse Themen verhandelt als noch vor zwanzig Jahren», beobachtet Andreas Mauz, Germanist und evangelischer Theologe an der Universität Zürich. Zu seinen Lieblings­genres gehört der Kriminalroman, in dem die Darstellung von Mord und Totschlag oft mit Überlegungen zu Schuld und Sühne verbunden wird. Der Mord im Beichtstuhl oder die kirchliche Verheimlichung «authentischer» Jesus-Überlieferungen sind beliebte Motive der Populärliteratur.

Motive für Krimis. Im Thriller «Das Jesus–Video» von Andreas Eschbach etwa findet der Archäologe Stephen Foxx in einem 2000 Jahre alten Grab eine Bedienungsanleitung für eine Kamera, die erst in drei Jahren in die Geschäfte kommt. Dieser merkwürdige Fund lässt sich nur dadurch erklären, dass das Skelett das eines Zeitreisenden sein muss, der Aufnahmen von Jesus Christus gemacht hat. Der Wettlauf um das Auffinden der Kamera beginnt. Denn an den Aufnahmen von Jesus sind alle interessiert: die Geldgeber der Grabung, der Archäologe und der Vatikan, der verhindern will, dass diese an die Öffentlichkeit gelangen.

«Schriftsteller, die ernsthaft über die Eigentümlichkeiten religiöser Lebens­ori­entierung schreiben, stehen vor einer anspruchsvollen Aufgabe», sagt Mauz. Sie müssten für Erfahrungen Worte finden, die schwer fassbar seien. Und dies in einer Sprache, welche die Gegenwart treffe. «Die überlieferten heiligen Schriften können dabei ebenso ein Hindernis wie auch eine Hilfe sein.»

Für die Lyrikerin Rose Ausländer waren die poetisch religiösen Psalmen eine Inspirationsquelle. Ihre Gedichte, die sich oft wie Gebete lesen, handeln von ihrem Schicksal als Holocaust-Überlebende, von der Schöpfung und der Vertreibung aus dem Paradies. Rose Ausländer denkt über die schwer zu fassenden Geheimnisse unseres Leben nach: «Lass mich / dir entgegenblühn / Schönheit / Es heisst / blühn und / sterben.» Ein Gedicht über diesseits und jenseits, das sie ans Krankenbett gefesselt in ihren letzten Lebensjahren schrieb.

Sehnsucht in der Leere. Immer wieder streben Literatur und Religion nach Antworten auf die Fragen: Woher komme ich? Welchen Sinn hat mein Leben? Wohin gehe ich? Die amerikanische Schrift­stellerin Stefanie Saldana erzählt in ihrem autobiografischen Erstlingsroman «Das Brot der Engel» ihre spirituelle Suche: 2004 lebt die junge Studentin ein Jahr in Damaskus und zieht sich für dreissig Tage in ein Wüstenkloster zurück, um sich den geistigen Übungen von Ignatius von Loyola hinzugeben. De­tailreich beschreibt die Autorin von ihrem Hadern mit Gott, der Suche nach ih­rer Bestimmung, der Frage, ob sie ein Nonnenleben führen soll. Im Kloster dann folgt eine schicksalhafte Begegnung und die Suche der Autorin nach der eigenen Bestimmung findet ein Ende.

Auch der deutsche Autor Uwe Timm schreibt im Roman «Vogelweide» über die menschliche Sehnsucht nach etwas, das den Menschen durch die Summe der Möglichkeiten lenkt. Darin geraten zwei glückliche Paare in die Verstrickungen der Liebe, ihr Leben wird aus den Angeln gehoben. Die Hauptfigur Eschenbach, der einst Theologie studiert hat, verliert alles und endet auf dem Leuchtturm ei­ner einsamen Insel im Wattenmeer. «Vogelweide» liest sich wie ein Echo auf Hiob, dem alles genommen wird: Familie, Besitz, Gesundheit. Nur steht nicht der geheime Ratschluss Gottes hinter der Katastrophe, sondern das Begehren.

Wie Eschenbach steht auch der Pfarrer Thomas Pemberton, Protagonist im Roman «City of God» von L. E. Doctorow, vor einem Trümmerhaufen: Er ist geschieden, seine Gemeinde in Manhattan schwindet und er kämpft mit schweren Glaubenszweifeln. In Zwiegesprächen ringt er mit Gott und der von ihm ge­schaf­fenen Welt. Und dann findet sich das Kreuz seiner Kirche eines Tages auf dem Dach einer Synagoge.

Zweifel sind ein wiederkehrendes Motiv in der Gegenwartsliteratur. Die italie­nische Schriftstellerin Susanna Tamaro erzählt in ihrem Briefroman «Geh, wohin dein Herz dich trägt» die Geschichte eines misslungenen Lebens. Die Autorin sucht religiöse Antworten auf die Sinnfrage und führt dabei buddhistische und hinduistische Gedanken mit jenen aus dem Alten Testament zusammen.

Die Suche nach Antworten auf die grossen Fragen, das Ringen mit Gott beschäftigt Schriftstellerinnen und Schriftsteller stets neu. Die säkulare Moderne hat das menschliche Urbedürfnis nach Transzendenz nicht zum Verschwinden gebracht – im Gegenteil.

Die grössere Aufmerksamkeit auf religiöse Themen in der heutigen Literatur führt der Germanist und Theologe Andreas Mauz auf die multikulturelle Gegenwart zurück: «Die Konfrontation mit dem auch religiös Fremden stimuliert das Bedürfnis zu einer Beschäftigung mit den eigenen religiösen Traditionen.»

Buchtipps

Und nenne dich glück. Gedichte 1982–1985. Rose Ausländer. Fischer 6. 1994, 208 Sei­ten

City of God. L. E. Doctorow. Kiepen­heuer & Witsch 2013, 400 Seiten

Das Jesus-Video. Andreas Eschbach. Bastei Lübbe 3, 2014, 704 Seiten

Das verborgene Wort. Ulla Hahn. Deutsche Verlags-Anstalt 2006, 595 Seiten

Joseph und seine Brüder. Thomas Mann. Vier Romane in einem Band, Fischer 2007, 1344 Seiten

Hiob. Joseph Roth. DTV 8. 2002, 192 Seiten

Das Brot der Engel – ein Jahr in Damaskus. Stephanie Saldaña. Irisiana 2010, 448 Seiten

Geh, wohin dein Herz dich trägt. Susanna Tamaro, Diogenes 2014, 320 Seiten

Vogelweide. Uwe Timm, DTV 2015, 336 Seiten