Das Etikett Kulturprotestant ist oft ein Schimpfwort. Sind Sie einer?
Jörg Lauster: Wenn Sie das Wort nicht negativ gebrauchen, würde ich mich gerne so bezeichnen.
Das passt zu Ihrer kulturellen Passion, die man in jedem Satz Ihrer Kulturgeschichte «Verzauberung der Welt» spürt. Ist nicht die dem Wort verpflichtete Reformation der Transmissionsriemen gewesen, um Europas Literatur auf neue Höhen zu führen?
Die Entwicklungslinie verläuft komplizierter. Zuerst war da Abwehr gegen die Literatur – gerade im calvinistischen Milieu. Man hielt es mehr mit dem Philosophen Platon und seiner vernichtenden Kritik: «Alle Dichter lügen.»
Beförderte das Lesen der Bibel nicht einen Alphabetisierungsschub?
Das stimmt schon. Aber Literatur, vor allem der Roman mit seinen erfundenen Geschichten, galt streng moralisch betrachtet als ein Lügenwerk. Deshalb gehört die Geburtshilfe der englischen Puritaner für den modernen Roman für mich zu einem der spannendsten Kapitel in der christlichen Kulturgeschichte.
Wie kamen die frommen Briten dazu, den verfemten Roman zu adeln?
Sie haben sich gesagt: Vielleicht braucht es, um Menschen zu erreichen, mehr Instrumente als rituelle und liturgische Formen. Einige Schriftsteller wie Daniel Defoe (1660–1731) sind dann auf die Idee gekommen, mit Literatur zu begeistern.
Defoe, das ist doch der Autor des weltberühmten «Robinson Crusoe»?
Richtig. Und Robinson gibt ein gutes Modell ab. Er zeigt, wie sich innere Bekehrung vollzieht. Nirgendwo ist besser beschrieben worden, wie das protestantische Schriftprinzip wirkt. Seine tägliche Bibellektüre, seine Reflexionen über Bibelworte, von denen er meint, sie seien in sein Leben hineingesprochen. Literatur rückt das, was Religion ausmacht, viel näher an unser eigenes Leben heran als Predigten und Traktate.
Gibt es noch ein anderes Beispiel, das der Lese-Revolution einen Schub verlieh?
«Pilgrim's Progress» vom Baptistenprediger John Bunyan ist das Buch, das der christlichen Literatur zum Durchbruch verholfen hat. Ein fantasiereiches Werk. Der wandernde Christ, der sich immer mehr auf Gott und das Jenseits zubewegt. Dabei muss er Prüfungen und Kämpfe gegen Monster bestehen.
Existiert etwas Ähnliches auch im deutschen Sprachraum?
Wenn ich ehrlich sein darf: Ein Buch in deutscher Sprache, das so charmant, freundlich, offen und trotzdem tieffromm seinen religiösen Stoff entfaltet wie «Robinson Crusoe», gibt es nicht. Am ehesten kommt dem die pietistische Erweckungsliteratur nahe. Hier steht aber die Bekehrungsabsicht von Anfang an im Zentrum.
Und Goethe, Schiller, Herder – die Weimarer Klassiker?
Da findet die Auseinandersetzung mit Religion eher auf theoretischem Niveau statt. Was dem literarischen Modell Defoes in der deutschen Literatur näherkommt, sind die Romantiker, natürlich unter anderen Vorzeichen. Ohne Rückgriff auf die kirchlichen Begriffe wird von ihnen die innere Gestimmtheit als religiöses Lebensgefühl dargestellt. Das geschieht insbesondere in der Poesie.
Bedeutet die Hinwendung zur Literatur nicht zugleich eine Abwendung von der Religion?
Das ist die grosse Frage: Ist das eine Transformation auf Kosten der Kirche? Wenn jemand gerne in die Berge geht und sagt: Natur erfüllt mich religiös – kehrt er damit dem Christentum den Rücken? Ich glaube nicht. Und der, der romantische Gedichte schreibt, muss sich ebenso wenig zwingend vom Christentum verabschieden.
Auf die Romantik folgten bald Literaten, die den Roman nutzten, um den Glaubensverlust einer Person nachzuzeichnen. Ich denke an Gottfried Kellers «Grünen Heinrich».
Ein spannendes Buch. Keller gelingt es, mit dem «Grünen Heinrich» eine Seelenschau religiöser Gefühle zu entfalten. Deshalb ist es für mich ein zutiefst religiöses Buch. Es ist ein klassisches atheistisches Buch, das bestreitet, dass es einen Gott gibt, der diese Welt erschaffen hat.
Aber im offen konstruierten Roman werden neugierig andere Glaubenspositionen gedanklich durchgespielt. Und es sind wunderbare Stellen darin. Beispielsweise das Lob auf die Endlichkeit: Wenn ich wüsste, die Sonne würde immer und immer wieder aufgehen, dann wäre dies langweilig für mich.
Aber zu wissen, dass sie nur eine begrenzte Zeit für mich aufgeht, macht jeden Sonnenauf- und -untergang zu etwas Einzigartigem. Dieses Lob der Endlichkeit macht vermeintlich gottferne Literatur auch für Christen spannend. Das fordert uns stärker zum Nachdenken heraus.
Keller regt mehr an als der Atheist Dawkins?
Im «Grünen Heinrich» begegnet uns ein Atheismus, der ein Resultat eines inneren Ringens ist. Was einige atheistische Denker wie Dawkins heute formulieren, ist ideologisch verhärtet, ein in sich abgeschlossenes Weltbild ohne Neugierde.
Ob Gottfried Keller oder Thomas Mann, Bert Brecht oder Hermann Hesse – die klassische Moderne ringt noch mit der Religion als Grossthema. Dann kommt der Lyriker Gottfried Benn, Pfarrerssohn übrigens, und sagt: «Gott ist kein Stilmittel.»
Es ist im 20. Jahrhundert unübersehbar: Im Zuge einer stärkeren Autonomiebewegung gibt es eine deutliche Absetzungsbewegung von religiösen Stoffen. Aber das ist nicht schlimm. Reine Verkündigungsliteratur wäre langweilig. WennLiteratur nur verdoppelt, was in Predigten schon gesagt wurde, dann verspielt sie ihren eigentlichen Reiz.
Gibt es ein aktuelles Buch, das Sie besonders anspricht?
Eines der gegenwärtig spannendsten Bücher im deutschen Sprachraum stammt meines Erachtens von Robert Seethaler: «Ein ganzes Leben». Dem Protagonisten ist das Leben nicht freundlich gesinnt. Viele Schicksalsschläge begleiten den Aussenseiter, seine Frau verunglückt tödlich bei einem Lawinenabgang.
Und da hat Seethaler diesen grandiosen Satz formuliert: «Er ist niemals in Verlegenheit gekommen, an Gott glauben zu müssen.» Der Sinn des Lebens kann in der Erzählung nicht beantwortet werden. Aber das Buch regt zum Nachdenken an: Gibt es in diesem Leben einen roten Faden? Gibt es eine Hand, die dieses Leben führt? Auch wenn der Autor dies selbst verneint, wird diese Frage aufgeworfen.
Auch ästhetisch besticht das Buch?
Sicher. Ein Buch ist ein gutes Buch, wenn ich auf einen Autor stosse, der Dinge, die ich selber erlebe, besser zur Sprache bringen kann, als ich das könnte.
Und explizit christliche Autoren wie Hanns-Josef Ortheil sprechen Sie ihre schriftstellerische Qualität ab?
«Die Erfindung des Lebens» von Ortheil ist ein grandioses Buch, das keinesfalls nur christliche Werte in der Art der Verkündigungsliteratur abbildet. Da wird mit eigenen literarischen Mitteln Lebensgeschichte in ihrer ganzen Verstrickung und Tragik, aber auch in ihren befreienden Horizonten abgebildet. Ortheil ist ein sehr gutes Beispiel, wie literarisches Schaffen gerade darum religiös interessant sein kann, weil es autonom ist.
Sie lehren an der Ludwig-Maximilian-Universität. Hier haben die Geschwister Scholl, passionierte Leser von Bibel und anderer Literatur, 1943 in Flugblättern zum Widerstand gegen das NS-Regime aufgerufen. Hunderttausend andere Deutsche haben ebenso Bibel und Literatur gelesen und sind als Mitläufer im Dritten Reich willenlos mitmarschiert.
Zu den grossen Ernüchterungen des 20. Jahrhunderts zählt, dass Kultur die Menschen nicht besser macht. Auch Literatur nicht. Sie kann höchstens zu einem angemesseneren Umgang mit dem eigenen Leben führen, zu einem Nachdenken über das, was richtig und was falsch ist. Aber man konnte Goethe lesen und KZ-Wärter sein. Es kommt darauf an, was die Literatur in uns innerlich auslöst und was wir daraus machen.
Hilft die Religion bei der Findung einer ethischen Lebenshaltung mehr?
Auch wenn die Welt gegenwärtig ein anderes Gesicht zeigt, möchte ich optimistisch formulieren: Richtige Religion macht die Menschen besser. Wo im Namen der Religion Gewalt, Druck und Hass gepredigt wird, stimmt etwas mit der Religion nicht. Ein religiöser Mensch ist ein Mensch, der von einer Wahrheit berührt wird, die grösser als er selbst ist. Diese Wahrheit lässt ihn zum Guten streben.