Schwerpunkt 28. September 2016, von Delf Bucher

«Ich warte, bis Dinge zu Sprache werden»

Literatur

Der deutsche Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert zeigt, wie Poesie das Unbegreifbare umkreisen kann, ohne in religiöse Erbauungsliteratur abzugleiten.

Ideen wehen ihm zu. Manchmal herrscht lange Windstille. Dann schreibt er wieder Gereimtes und Ungereimtes auf, sucht neue Wörter, streicht Sätze. Es ist ein langer Weg, bis Christian Lehnert eine Gedichtsammlung vorlegt: «Ich warte, bis Dinge zu Sprache werden, mir entgegenkommen», sagt er am Telefon.

Er schreibt von Perlmuttfaltern und Störchen, von Pflanzplätzen und den To­maten darin. Lehnert feiert die Natur, und dennoch wird er einem Etikett nicht entkommen: des Dichter-Pfarrers. «Man darf ihn einen religiösen Dichter nennen», schrieb die «Frankfurter Allgemeine» und die «Basler Zeitung» nannte ihn gar einen «Nachfahren der Mystik».

Moderne Mystik. Die moderne «Unio my­stica» des Dichters klingt so: «Ich bin dein Echo, du bist meine Stimme. / Ich höre mich, wenn ich in dir ver­schwim­me. / Du bist der Raum, in dem ich widerhalle / und endlos falle.» Die Wende des in Dresden Geborenen hin zum Christentum ist biografisch ungewöhnlich. Denn das DDR-System war auf das Austreiben christlicher Traditionsbestände angelegt, das indifferente Elternhaus auch kein spiritueller Stichwortgeber.

Aber Lehnert entdeckte den «offenen, freien Raum» der Kirche, in der ein anderes Sprechen möglich wurde. Lehnert verweigerte den Wehrdienst und wurde zum waffenlosen Dienst als Bausoldat eingezogen. «In der Zeit als Bausoldat kam ich wirklich zum Schreiben», sagt Lehnert. Schreiben inmitten des Kasernenmiefs wurde ihm zur Überlebensstrategie. Daran wird auch im Gedichtband «Auf Moränen» erinnert: «Ich finde keinen Ausweg / aus der Wiederholung, am Rand des Schlafes, dankbar / für jeden Befehl, der den Zusammenhang / zwischen Arm und Hacke belegt.»

Anschreiben gegen Drill. Als Bausoldat war ihm der Zugang zur Universität und seinem Traumberuf Arzt verwehrt. Lehnert studierte das einzig mögliche Fach: Theologie. Dass er nach der Wende nicht auf die medizinische Fakultät wechselte, hatte mit einem nachhaltig wirkenden Erlebnis zu tun: dem Aufent­halt in Jerusalem. Dort erlebte er ein spirituelles Erwachen. Juden, christliche Mönche – er lebte in einem Benediktinerorden – und glaubensfeste Muslime zelebrierten Religion als Lebensform.

Von diesem Moment an war der Pfarrberuf seine Berufung. Die Bezeichnung Pfarrer und Schriftsteller setzt ihn, wie er selbst sagt, «unter Generalverdacht»: Da will einer mit poetischer Posaune die Säkularen ins Kirchenschiff zurückholen.

Natürlich öffnet Lehnert entkirchlichten Menschen neue Denkräume für ihre existenziellen Suchbewegungen. Er nimmt das Problem des an- und abwesenden Gottes in seine Dichtung hinein. Oft formuliert er in Paradoxen, lässt so Nähe und Ferne von Gott nur wenige Silben voneinander entfernt auftauchen.

Der dunkle Riss. Lehnert weiss um das Problem der «Unio Mystica» in einer oft gottlosen Gegenwart. Offen benennt er in seinem neuen Gedichtband «Windzüge» die gebrochene Glaubenserfahrung der Gegenwart: «Der Gott, den es nicht gibt, in mir ein dunkler Riss, / ist meiner Seele nah, so oft ich ihn vermiss.»

Dass der Wind dem Poeten Wörter zuweht, wo er will, spürt man in Lehnerts Lyrik. Aber der Hauch, der zufällig da und dort seinen warmen Atem verströmt, ist eine Metapher, die auch ganz ohne Hintergedanken an den Heiligen Geist funktioniert. Darauf legt der Dichter, derunter christlichem Ideologieverdacht steht, wert. delf bucher

Fragen und Zweifel statt Antworten

Nichts ist sicher. Schon längst liegt das geschlossene Gottesbild in Trümmern. Alles ist rissig und deshalb stimmt wohl die Sentenz von Christian Lehnert im neuen Ge­dichtband «Windzüge»: «Ganz sind nur die vielen Scherben.» Da ist Gottes Auge ausgerechnet «dem Blind­ge­borenen treu». Und der transitorische, nicht zu fixierende «Licht­schein wurzelt im Wind». Lehnert liebt die Pa­radoxe. Sie heben die Gewissheiten auf und werfen Fragen und Zweifel auf. Sie ver­weigern schlüssige Antworten.

Biblisches Erbe. Programmatisch greift er in seinem neuen Lyrikband unter der Überschrift «Brennender Dornbusch» bib­lische Bilder auf. Der Dornbusch, der brennt und sich doch nicht verzehrt, wird von ihm lyrisch übersetzt: «Jetzt greife Brand! /Verzehrendes Erwachen, / dass sichtbar wird das unversehrte Schwirren.»

Windzüge. Christian Lehnert, Suhrkamp, 2016, 108 Seiten

Christian Lehnert, 47

Die DDR-Kindheit prägte Christian Lehnert, geboren 1969 in Dresden. Nach kirchlichem Kontakt entschied er sich, den Wehr­dienst zu verweigern, studierte Theo­lo­gie. Sein lyrisches Talent öffnete die Tür zum Suhrkamp-Verlag. Hier erschien 1997 sein Debüt, dem mittlerweile sechs weitere Gedichtbände wie auch Literaturpreise folgten. Er arbeitete als Ge­meinde­pfarrer und leitet heute das iturgiewissenschaftliche In­stitut in Leipzig.