«Gott will, dass ich seine Worte gut spreche», sagte sich Nora Gomringer als Kind. «Deshalb lässt er mich nicht über sie stolpern.» Davon war die heutige Lyrikerin überzeugt. Das laute Lesen der Bibel half ihr, eine Sprech- und Lesehemmung in den Griff zu bekommen. Stolz sei sie gewesen, habe sie die einzig hilfreiche Lektüre dieser Welt für die umfassende Selbsttherapie ausgewählt.
Heute steht Gomringer sprachgewandtund selbstbewusst auf vielen Bühnen. Lustvoll und mit viel Humor trägt sie ihre Lyrik vor. Spielt mit Rhythmus und starken Bildern. Gomringer kommt aus der «Poetry-Slam»-Szene, in der das gesprochene Wort im Zentrum steht.
Prägende Bibelbilder. Zum geschriebenen Wort fühlte sie sich früh hingezogen. «Im Anfang war das Wort», zitiert sie den Beginn des Johannesevangeliums. «Was gibt es Magischeres?» fragt sie sogleich. Gomringer, die römisch-katholisch aufgewachsen ist, erinnert sich an ihre Kinderbibel, die sie erst kürzlich im Keller wiedergefunden hat. «Stundenlang habe ich die Illustration der Sintflut und die Geschichte Noahs angeschaut.» Als Tochter einer katholischen Mutter und eines atheistischen Vaters habe sie früh beten gelernt und tue dies auch heute regelmässig.
Gomringer spielte mit dem Gedanken, zum Judentum zu konvertieren. Die Geschichte ihres deutschen Grossvaters und seine Verstrickungen als SS-Offizier im Zweiten Weltkrieg hätten Zweifel geweckt. «Habe ich Mitschuld am Schicksal der Juden?», fragte sie sich immer wieder. Viele Diskussionen habe sie darüber mit ihrer Mutter geführt.
2001 fällt dann der Entscheid, Christin zu bleiben. Am 11. September hält sich Gomringer in New York auf. Arbeitet für ein Institut, in dem sie jüdische Nachlässe katalogisiert. «Konvertiere ich meinetwegen oder tu ich das für meine Mutter und meine so, ihr eine Last abzunehmen?» Gomringer realisierte, dass ein Konvertieren zum Judentum kein Herzensschritt für sie persönlich gewesen wäre.
Die Apfelesserin. Ihre Kreativität komme von Gott, sagt die Dichterin. Das Schreiben ihrer literarischen Texte erlebt sie als etwas Religiöses. «Es wird zu einer inneren, stillen Feier. Die Orte, von welchen die Texte herkommen, sind sehr eigen.» Da müsse doch jemand mitschreiben.
Geschichten aus der Bibel dienen ihr als Vorlage für bestimmte Bilder. Sie arbeitet aber auch mit Mischformen. So nimmt sie beispielsweise ein durch die Bibel angeregtes Totengebet auf und verbindet dies mit etwas Alltäglichem, wie dem Tod eines Hundes.
Gomringer sieht es als eine Aufgabe der Dichtung, die Sprache der Bibel und der Theologie in jeder Generation neu zu entdecken. So liest man in ihren Lyrikbänden nicht von Eva, sondern von der «Apfelesserin». Einen Vortrag, der Einblicke in ihr literarisches Schaffen und die Bezüge zur Religion gab, hielt Gomringer an der Universität Wien unter dem Titel: «Man sieht’s. Der Gott zwischen den Zeilen der Nora G.»
Als Schriftstellerin beeindrucken sie die Evangelisten: «Sie haben die Zeugnisse Jesu niedergeschrieben und so die einflussreichsten Schriften der Weltgeschichte geschaffen.» Die Kraft, die von diesen Schriften ausgehe, sei faszinierend. «Über Generationen hinweg haben sie Menschen immer wieder beeinflusst.» Auch die unterschiedlichen Textformen in der Bibel imponieren ihr: «Briefsammlungen, Gebete, Genealogien: alles Formen, die sich in meinen Gedichten wiederfinden.»