Sie sei ein frommes Kind gewesen, sagt Sibylle Lewitscharoff und erzählt sogleich von ihrer Grossmutter, die bei ihnen im Haus lebte und ihre Kindheit massgeblich prägte. «Meine schwäbischeGrossmutter war eine liebenswürdige Frau. Sie sang schön, war sehr fromm und erzählte gerne Geschichten aus der Bibel.» Ihretwegen seien die Erinnerungen an das Religiöse nicht getrübt von negativen Erfahrungen.
Im Gegenteil: «Meine Grossmutter hat vielen Menschen in ihrer Umgebung Gutes getan. Ihr verdanke ich viel, und ihretwegen bin ich wohl auch nicht aus der Kirche ausgetreten, obwohl ich durchaus darüber nachgedacht habe.»
Lewitscharoffs kindliche Frömmigkeit wurde jäh aufgerissen, als sie im Alter von elf Jahren den Selbstmord ihres Vaters und kurze Zeit später den Tod ihrer Grossmutter hinnehmen musste. Trotzdem sei ihr Glaube nie ganz weg gewesen, sagt die Schriftstellerin. «Bis heute wende ich mich an Gott und an meine Grossmutter, bitte um Hilfe und habe den Eindruck, dass sie helfen.»
Die Schrift im Sand. Nun bezieht sich Lewitscharoff in ihrem neuen Roman «Das Pfingstwunder» erstmals direkt auf die Bibel. Sie lässt ihre Hauptfigur, einen Dante-Forscher, am Tag des Pfingstfests ein Wunder erleben. Sie streift mit ihm durch Dante Alighieris «Göttliche Komödie», durch Himmel und Hölle und lässt ihn die grossen theologischen und religiösen Fragen wälzen.
«Mich faszinieren auch andere biblische Geschichten», sagt sie. «Das Buch Hiob, das zu einer Vielzahl einander widerstreitender Interpretationen geführt hat. Oder die Geschichte von Jesus, derseine Augen von der aufgebrachten Menge, die eine Ehebrecherin steinigen will, abwendet. Scheinbar unbeteiligt schreibt er etwas in den Sand, gibt den Anwesenden ein Rätsel auf und dämpft damit die Mordlust der Meute. Einfach genial, dieses Ablenkungsmanöver!»
Erdlastige Prosa. Eigentlich möchte die studierte Religionswissenschafterin einen Roman «zum Lobe Gottes» schreiben. Aber sie bleibt realistisch. «Ich könnte das nicht und versuche es deshalb auch nicht. Dante ist vielleicht der einzige Dichter, dem solches in opulenter Weise gelungen ist. Zumindest annähernd.» Sie lobt die «poetische Auftriebsenergie» dieses Dichters und ist begeistert, wie er sich mit seinen Versen in Gottes Nähe schwingt.
«Grosse Dichtung, besonders die Hymnen, vermag bis zu einem gewissen Grade, das Gotteslob aus übervollem Herzen zu singen. Die Prosa nicht. Sie ist erdlastig, gehört zur geistigen Erdgebundenheit.» Allenfalls mit Träumerei liesse sich das Himmlische noch in den Blick nehmen.
«Aber Träume sind zweifelhafte Kandidaten für religiöse Höhenflüge. In ihnen geht es zu wild durcheinander. Religiöses Denken benötigt ein strengeres Korsett und im übrigen auch Vernunft.» Und nicht zuletzt Distanz. «Es liegt in meinem Charakter, den bohrenden Ernst zu ergründen und mich in der Welt des religiösen Denkens nicht ohne leicht irritierten Schalk zu bewegen.»
Lewitscharoff interessiert sich für die grossen Suchbewegungen des Menschenund erkundet in ihren Texten das Dies- und Jenseitige. Hat sie ein Problem damit, wenn die Kritik sie in die religiöse Ecke stellen will? Ihre Antwort ist ein bestimmtes Nein: «Mich präzise in einen christlichen Kosmos einzuschreiben und als zugehörig bezeichnet zu werden, ist unproblematisch. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass sich die christliche Kirche in einer Form grosser Verwahrlosung befindet. Und damit habe ich ein Problem.» katharina Kilchenmann