Die Liebe weist über alles Irdische hinaus

Jenseits

So konkret wie das Jenseits als Paradiesgarten wird der Begriff der Transzendenz nicht. Er versucht eine Brücke zu schlagen zwischen den Welten – und kann so helfen im Leben.

Transzendenz steht für das, was sich hinter der diesseitigen Welt verbirgt. Eine Sphä­re, die neugierig macht. Dieser Begriff kommt aus dem lateinischen «transcendere» und bedeutet hin­über­schreiten, übertreten.

Gemeint ist nebst dem Überschreiten einer Grenze auch die Existenz eines Bereichs ausserhalb der normalen Erfahrungswelt. Im Mittelalter wurde dieser Bereich Gott zugeschrieben und gleichbedeutend für das Absolute gebraucht. So weit die Theorie.

Und die Praxis? Wie sehen reformierte Theologinnen und Theologen der Gegenwart den Begriff der Trans­zendenz, welchen Platz haben die Vorstellungen zum Ausserweltlichen in ihrem Alltag als Seelsorgende und Beratende, aber auch in ihrer Forschungsarbeit?

Liebe hat ewige Qualität

Nina Reichel ist Theologin und Mitarbeiterin bei der Paar- und Lebensberatungsstelle Paarlando in Chur. Paarberatung lasse sich nicht nur psychologisch, sondern auch theologisch reflektieren, sagt sie. «Müsste ich eine Aussage der Bibel als zentral für die Paarberatung benennen, wäre dies: ‹Gott ist Liebe, und wer in der Liebe lebt, ist mit Gott ver­bunden, und Gott ist mit ihm verbunden›» (1 Joh 4,16).

Die Liebe hat damit eine trans­zendente Qualität.
Nina Reichel, Theologin und Mitarbeiterin bei der Paar- und Lebensberatungsstelle Paarlando

In der Bibel stehe geschrieben, dass Gott die Liebe in der Welt nähre und damit auch den Menschen. Entsprechend sei es die Liebe, die dem Menschen das Ewige erlebbar und spürbar mache, in der Zeit und im Raum. «Die Liebe hat damit eine trans­zendente Qualität», erklärt die 40-Jährige. Anders gesagt: Die Liebe weist den Menschen über sich hinaus auf ein Gegenüber, nämlich auf Gott. Und ebenso auf das jeweilige menschliche Gegenüber.

Über das Diesseits hinaus

In der Liebe, führt Reichel weiter aus, betone Gott die spezifischen Qua­litäten des Menschen. «Denn zur Liebe gehören Hoffnung, Mitgefühl und eine zugewandte Haltung dem Mitmenschen gegenüber.» Die Liebe mit ihrer transzendenten Qualität weist somit auch über alles Gebrochene, über alles Scheitern und letz­lich alles Sterben in einem Menschenleben hinaus. Sie überdauert das Diesseits.

Was sich hinter diesem Diesseits wohl befinden mag, beschäftigte die Menschen zu allen Zeiten. «Als vernunft- und fantasiebegabte Wesen haben wir den Drang, das auszufül­len, was wir nicht wissen», sagt die Bündner Pfarrerin Marianna Iberg. «Und wir können nicht wissen, was nach dem Tod kommt.» Sie begleitet Schwerkran­ke, Sterbende wie auch Angehörige während eines schweren Lebensabschnittes.

Eine gemeinsame, wohltuende Vorstellung vom Jenseits hilft Sterbenden wahrscheinlich, sich beim Sterben weniger allein zu fühlen, getragen von der Ge­­meinschaft.
Marianna Iberg, Pfarrerin

Wenn der Tod nahe, frage sich jeder Mensch, was nachher sein werde, sagt Iberg. «Eine gemeinsame, wohltuende Vorstellung vom Jenseits hilft Sterbenden wahrscheinlich, sich beim Sterben weniger allein zu fühlen, getragen von der Ge­­meinschaft.» Und tradierte Übergangsriten könnten helfen, diese Ge­­meinschaft und die Hoffnung erlebbar zu machen.

Oft wird sie von Leuten gefragt, ob sie einem sterbenden Angehörigen den Segen geben könnte. Ein Beispiel vergisst sie nie: Eine Sterbende hatte schon länger auf nichts mehr reagiert. «Aber als wir um ihr Bett standen und ich die Hand zum Segen ausstreckte, schmiegte sie ihren Kopf in meine Hand hinein.»

Mitten im Menschen

Eine christliche Jenseitsvorstellung ist das Paradies, der Garten Gottes, aus dem nach biblischer Überlieferung die ersten Menschen verstossen wurden, der ihnen am Ende aller Zeiten aber wieder offen steht (Offb 2,7). Ist dieses Paradies aber möglicherweise schon im Diesseits, auf Er­­den zu finden? Schimmert im mensch­­lichen Alltag nicht bereits das Transzendente hindurch?

Das Jenseits ist das Jenseits, weil es eben nicht hier ist.
Jörg Lanckau, Bibelwissenschaftler an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg

«Das wäre ein Widerspruch in sich. Das Jenseits ist das Jenseits, weil es eben nicht hier ist», sagt Jörg Lanckau, Bibelwissenschaftler an der Evangelischen Hochschule in Nürnberg. Der Apostel Paulus beschrieb das Jenseits so: «Jetzt sehen wir nur ein Spiegelbild. Aber dann sehen wir von Angesicht zu Angesicht» (1 Kor 13,12).

Ansonsten schweige sich die Bibel über die Transzendenz aus, sagt Lanckau. Statt eines ausufernden Jenseitskultes, wie man ihn etwa im alten Ägypten finde, gebe es den nüchternen Verweis auf das gelobte, also von Gott verheissene Land. Das ist da, wo Weizen und Gerste wachsen und Weintrauben, Feigen, Granatäpfel, Oliven und Datteln zu ernten sind. Und da, wo Gerechtigkeit und Frieden gedeihen.

Laut Jesus ist dieses Gottesreich im Menschen selbst zu entdecken: «Seht, das Reich Gottes ist inwendig in euch» (Lk 17,21), wandte er sich an einige Pharisäer. Bei diesen Worten bleibt es aber nach wie vor möglich, dass es noch mehr geben kann, nach dem Tod.