«Das Licht ist entrückende Jenseitsvision»

Jenseits

Vom Meer des Vergessens bis zur Magie des Lichts – die Bilder des Jenseits wandeln sich. Kunsthistorikerin Tiziana Carraro gibt einen Abriss über die Vorstellungen seit der Antike.

Das Jenseits wird mit dem Reich des Todes und der Toten gleich­gesetzt. Wie stellte man sich in der Antike diese Welt vor?

Tiziana Carraro: In der altgriechischen und altrömischen Vorstellung entspricht der Tod einem grossen Vergessen. Wer über den Fluss Styx gefahren wird, der taucht ein in dieses Meer. Der Styx markiert die Grenze zwischen den Reichen der Lebenden und der Toten. In einer alten süditalienischen Grabkammer ist ein Was­serspringer zu sehen, der eine Art Köpfler vom Einmetersprungbrett macht. Da haben wir eine erste Metapher: Das Wasser nimmt das Leben auf und bewirkt seine Auflösung. Dieses Bild findet sich auch auf römischen Sarkophagen: Wellenlinien symbolisieren den Eingang des Bestatteten ins Totenreich.

Finden sich solche vorchristlichen Ansichten auch im Christentum?

Ja, viele christliche Darstellungen haben einen heidnischen Ursprung. Zum Beispiel die Welt der geflügelten Wesen. Schon der griechische Liebesgott Eros war mit Flügeln aus­gestattet. Die Putti und Engelswesen, die das christliche Jenseitsreich bevölkern, gehen auf die Eroten zurück, das sind die kleinen geflügelten Liebesbegleiter der antiken Liebesgöttin Aphrodite.

Das Wort Engel kommt vom griechischen «ángelos», was «Bote» bedeutet. Sind die Engel also die Botschafter zwischen der jen­seitigen und der diesseitigen Welt?

Sicher, wir sehen das bei den Engeln in der Bibel, die ja Mitteilungen aus der Gotteswelt überbringen. Auch diese Vorstellung gab es schon in der Antike. Der Götter- oder Himmelsbote Hermes etwa segelte mit geflügelten Fersen oder geflügeltem Helm durch die Lüfte. Er überbringt die Botschaften schneller als der Wind. Die griechische Götterwelt des Olymps stellt eine recht menschliche Gesellschaft dar. Hier sind alle arbeitsteiligen Funktionen vertreten – vom Mundschenk bis zum Briefträger.

Tiziana Carraro (54)

Tiziana Carraro (54)

Die Kunsthistorikerin bietet im eigenen Culturart-Salon in Winterthur Lehr­gänge in Kunstgeschichte an. Sie macht Führungen zu Ausstellungen in den Kunsthäusern in Winterthur und Zürich oder zu Kulturdenkmälern. Am Gym­nasium unterrichtet sie Italienisch. Sie hat italienische Linguistik und Lite­ratur, Kunstgeschichte und Pädagogik in Zürich und Pisa studiert – heute noch ihre Lieblingsthemen.

Die Welt des Olymps ist im Him­mel angesiedelt, die des Todes ist eine Unterwelt. Hat das Jenseits also immer zwei Seiten?

Diese Vorstellung, dass im Jenseits sowohl eine helle als auch eine dunk­­le Welt existieren, ein Oben und ein Unten, ist etwas sehr Menschliches. Wir zeigen ja instinktiv mit dem Finger nach oben, wenn wir von der Götterwelt sprechen. Das Bild eines Himmelsreichs, wo die heiligen Gestalten friedlich auf Wolkentürmen sitzen, zieht sich vom Mittelalter über die Renaissance bis zum Barock quer durch die Kunstgeschichte. Im Grunde ist die Vorstellung einer himmlischen Idealwelt aber schon in der Philosophie Platons angelegt, wo die Himmelssphären ineinanderdrehen und auf diese Weise göttlich schöne Klänge erzeugen.

Die Totenwelt hingegen ist eine der Gefangenschaft, der Schatten, des Ausgeliefertseins.

Prägend dafür ist der Mythos vom Totengott Hades, der Persephone zur Frau nimmt und sie in sein Reich der Finsternis entführt. Und immer dann, wenn sie an die Oberfläche darf, wird es Frühling. Auch Jesus tritt zwischen Tod und Auferstehung den Gang in die Unterwelt an, um dort die Seelen zu befreien. In der Bibel kommen aber Himmel, Hölle oder Fegefeuer nicht vor. Diese Bilder sind eine Erfindung zur Lösung des Rätsels, wo all die verstorbenen Seelen abgeblieben sind.

Seit wann existieren denn im Christentum höllische Vorstellungen?

Der Ursprung der Idee eines Fegefeuers lässt sich relativ genau datieren: Nach rund 1000 Jahren war die Enttäuschung, dass der Messias immer noch nicht wiedergekommen ist, um die Seelen erneut zu befreien, relativ gross. Man nahm darum an, dass die Verstorbenen noch eine Weile benötigen, um ihre Seelen von allen Sünden reinzuwaschen.

Um das Abbildungsverbot Gottes aus den Zehn Geboten zu um­gehen, behalf man sich mit einer ausgeklügelten Symbolik: Gottvater als Hand etwa, die aus einem die Schöpfung symbolisierenden Re­gen­bogen ins Irdische eingreift, und der Heilige Geist als Taube oder als Bündel von Strahlen.

Und die Gegenvorstellung eines him­mlischen Paradieses?

Das Christentum verbreitete sich zuallererst in einer Gesellschaft der Benachteiligten: Die ersten Christen waren Arme, Soldaten, Sklaven. Diese «Todgeweihten» klammerten sich an alle möglichen Jenseitsverheissungen. Die christliche Botschaft einer bevorstehenden himmlischen Glückseligkeit kam dabei als Hoff­nungs­spenderin sehr gelegen. Der gütige, verzeihende Gott konnte in diesem Umfeld seine Anziehungskraft gut entfalten. Frühe Darstellungen Jesu im zweiten und drit­ten Jahrhundert zeigen ihn als Verkünder einer frohen Botschaft.

Das mosaische Bildnisverbot wurde also schon früh aufgelöst?

Man muss sich vorstellen: Die antike diesseitsbezogene Darstellungswelt von paradiesischer Fülle, schö­ner Natur wie auch idealtypischen Göt­terfiguren war damals omnipräsent. Dem galt es etwas entgegenzusetzen. Der neue Glaube wollte mit neuen und jenseitsbetonten Bildern über­zeugen und so die alten Götter ablösen. Um das Abbildungsverbot Gottes aus den Zehn Geboten zu um­gehen, behalf man sich mit einer ausgeklügelten Symbolik: Gottvater als Hand etwa, die aus einem die Schöpfung symbolisierenden Re­gen­bogen ins Irdische eingreift, und der Heilige Geist als Taube oder als Bündel von Strahlen.

Solche bildhaft-konkreten Symbole spielen in der Moderne und Post­moderne kaum noch eine Rolle. Wel­che Formen der Darstellung verweisen dort auf das Jenseitige?

Einen Meilenstein stellen sicher die Versinnbildlichung Gottes durch das Sonnenlicht dar und die Einführung der linearen Zentralperspektive in der Renaissance. Der Mensch wirft in diesen Darstellungen plötzlich Schatten. Das Himmlische und das Irdische treffen sich im Schattenwurf. Dieses äussere Licht wird dann in der Moderne zu einem inneren Licht. Mit dem Wegfall der Zentralperspektive braucht es auch keinen Ursprung des Sonnen- oder Naturlichts mehr. Die göttliche Quelle fällt weg – und man könnte vielleicht sagen, dass an diesem Punkt die Bilder aus Licht und Farbe selbst göttlich werden.

Die Magie des Lichts ist Trägerin für religiöse Inhalte: Ger­hard Richter in Köln, Pierre Sou­lages in Conques, Sigmar Polke im Zür­cher Grossmünster oder Marc Chagall im Fraumünster haben die alte Kunst sakraler Farbfenster dem modernen Publikum nähergebracht.

Die Magie des Lichts wird dabei also zu einer eigentlichen Metapher für das Jenseitige?

Das Licht, das ist der Stoff der frühen Moderne, der die Malerei durch­dringt, aber auch die Architektur mittels grosser Glasflächen. In die Richtung der Farben- und der Lichtmagie gehen etwa die abstrakten Werke von Mark Rothko, der seine «Imagos» durchaus als religiöse Wer­ke verstand. Das Licht als Metapher spielt natürlich auch ausserhalb der Malerei eine grosse Rolle. Ich denke an Lichtinstallationen, zum Beispiel von Jenny Holzer oder Bethan Huws. Das Licht wird darin zu einem Träger für etwas Unsagbares, Höheres. Ein Beispiel sind auch die in Weiss und Gold, manchmal auch in Schwarz gehaltenen Reliefs und Plastiken von Louise Nevelson in Kirchenräumen in den USA. Neuere Kirchenbauten setzen architektonisch auf helle, lichtgeflutete Räu­me. Ein schönes Beispiel dafür ist das kürzlich mit dem Nike-Preis aus­gezeichnete Kirchenzentrum Poing bei München.

In Kirchenräumen dienten Fenster schon immer als Transportmittel von Licht zur Vermittlung einer feierlichen, erhabenen, mystischen Atmosphäre. Auffallend ist, dass ihr bewusster Einsatz gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein postmodernes Revival erlebte.

Wie schon in der Gotik verwandeln künstlerisch gestaltete Kir­chen­fens­­ter das Sonnenlicht in farbige, schwe­bende Materie, die zur entrückenden Vision wird. Die Magie des Lichts ist Trägerin für religiöse Inhalte: Ger­hard Richter in Köln, Pierre Sou­lages in Conques, Sigmar Polke im Zür­cher Grossmünster oder Marc Chagall im Fraumünster haben die alte Kunst sakraler Farbfenster dem modernen Publikum nähergebracht. Erst kürzlich wurden in Metz die Glasmalereien der Südkoreanerin Kim­sooja eingeweiht.